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Zweiter Anlauf für Gerechtigkeit Ost
IG Metall will 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland erreichen - 14 Jahre nach ihrem größten Streikdebakel
Das Erinnern an einen großen Kampf und eine traumatische Niederlage ist im Büro von Detlef Nagel allgegenwärtig. Auf dem Tisch vor dem Betriebsrat von VW im sächsischen Zwickau: eine Kaffeetasse mit dem Signet, mit dem die IG Metall in den 1980er Jahren im Westen um die 35-Stunden-Woche kämpfte. An der Wand: zwei Karten, die illustrieren, in welchen Betrieben und in welcher Mannschaftsstärke die IG Metall im Sommer 2003 versuchte, auch für die Beschäftigten in Sachsen, Berlin und Brandenburg die Verkürzung der Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden zu erkämpfen. Allein bei VW, so ist zu lesen, waren damals 6094 Beschäftigte im Streik. »Vier Wochen lang ging hier nichts mehr«, sagt Nagel und fügt an: »Wir hätten noch weiter gestanden.« Die Führung der IG Metall entschied anders; am 29. Juni 2003 blies sie den Streik ab. Das Debakel war bitter und schmerzt bis heute: »Das ist tief verankert«, sagt Nagel.
14 Jahre später indes wird an das Trauma gerührt. Die IG Metall nimmt einen erneuten Anlauf, die 35-Stunden-Woche im Osten durchzusetzen. Zwar kann sie im aktuellen Arbeitskampf, in dem jetzt erstmals 24-stündige Streiks anstehen, nicht direkt für das Thema mobilisieren. Der entsprechende Manteltarifvertrag wurde in Berlin und Brandenburg zwar zu Ende 2017 gekündigt; in Sachsen aber, wo die IG Metall ihre größten Bastionen hat, ist das erst im Juni möglich. Deshalb hat man sich darauf geeinigt, die Arbeitgeber in der laufenden Runde auf Gespräche festnageln und eine Verpflichtung zu Verhandlungen über die Verkürzung der Arbeitszeit im Osten fixieren zu wollen.
Zeit wird´s, sagt Nagel. Er rechnet vor, wie sich die längere Arbeitszeit in Summe auswirkt: drei Stunden pro Woche, etwa ein Monat im Jahr, vier Arbeitsjahre im Lauf eines Berufslebens. Vier Jahre länger arbeiten, nur weil die Firma auf dem Gebiet eines Landes steht, das vor beinahe 29 Jahren aufhörte zu existieren. »Das kann man keinem erklären«, sagt der Betriebsratschef und fügt an, es sei »kein Wunder, wenn sich manche Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse fühlen« - was sich zuletzt auch massiv in trotzigem Protest bei Wahlen manifestierte. Schon 2003, sagt Nagel, habe er die Angleichung der Arbeitszeit als eine »Frage der Gerechtigkeit« angesehen. Um wie viel mehr muss das weitere 14 Jahre später gelten?
Allerdings: Ein Kampf um Gerechtigkeit Ost, der mit wehenden Fahnen angegangen wird, zeichnet sich nicht ab. In der Berichterstattung über die Tarifrunde dominieren bisher andere Themen; es geht um sechs Prozent mehr Geld und vor allem um die Frage, ob Beschäftigte bei Bedarf befristet in Teilzeit gehen können, um etwa Angehörige zu pflegen - und ob sie dafür auch noch einen finanziellen Ausgleich erhalten. Ein wichtiges Thema, sagt Nagel; eine Frage, an der sich die Politik bisher die Zähne ausgebissen hat und in der die IG Metall zum Vorreiter in einer gesellschaftlichen Debatte werden könne. Falls bei VW in Sachsen zum Streik für die 28-Stunden-Option aufgerufen würde - seine Leute würden sich nicht zweimal bitten lassen, ist er überzeugt.
Ob die Metaller im Westen mit der gleichen Selbstverständlichkeit dafür kämpfen, dass ihre Kollegen im Osten endlich nur noch genauso lange arbeiten müssen wie sie, ist indes eine spannende Frage. Vor 14 Jahren schien das nicht der Fall gewesen zu sein. Zwar stößt man bei der Suche nach Gründen für das Streikdebakel auf ein ganzes Bündel möglicher Ursachen - und auf sehr verbreitete Zurückhaltung, darüber zu sprechen. Zu viele Vorwürfe und Verletzungen hat es damals gegeben, zu komplex war die Gemengelage. Eine Ebene: In der IG Metall tobte ein Machtkampf zwischen dem Chef Klaus Zwickel und Vize Jürgen Peters, den er als Nachfolger verhindern wollte. Er überlagerte sich mit Uneinigkeit zur Frage, ob ein Streik zur 35-Stunden-Woche Aussicht auf Erfolg hat. Schon im Osten wollten längst nicht alle für das Thema streiken. Die Arbeitslosigkeit war damals hoch; viele waren froh, einen Job zu haben - und wollten ihn nicht riskieren. Nagel und seine Kollegen von VW statteten damals anderen Firmen solidarische Besuche ab - und mussten erleben, wie »Streikbrecher« vor Werkstoren durch Gassen, die vor Gericht erkämpft worden waren, an ihnen vorbeiliefen. Das seien »unschöne Szenen« gewesen, »für beide Seiten«, sagt er.
Legendär war der Einsatz von Hubschraubern zur Belieferung des Automobilzulieferers Federal Mogul in Dresden. Bilder der Aktion waren ein Wendepunkt in dem Streik. Ein weiterer war, so heißt es, aber auch das Veto mächtiger Betriebsräte aus Autowerken im Westen, wo streikbedingt fehlender Nachschub die Bänder lahmlegte. In der Folge habe die IG Metall einzelne kritische Betriebe aus dem Arbeitskampf herausgelöst, sagt Nagel, etwa das Gelenkwellenwerk Zwickau, das viele Hersteller im Westen beliefert. Teils wurden separate Einigungen auch zur 35-Stunden-Woche getroffen, die inzwischen zwar wieder außer Kraft sind, damals aber die Streikkraft entscheidend schwächten. Von »Entscheidungen, die meines Erachtens nicht richtig waren«, spricht Nagel.
Um so aufmerksamer nehmen die Gewerkschafter im Osten Meldungen wie die kürzlich von der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen veröffentlichte zur Kenntnis. Darin heißt es, dass der Kampf um Verhandlungen zur Arbeitszeitangleichung Ost von den Betriebsratschefs praktisch aller großen Automobilhersteller unterstützt werde. Eine entsprechende Erklärung sei bei VW, Porsche, BMW, Mercedes-Benz und Opel unterzeichnet worden, außerdem bei Siemens und Bombardier, die große Werke im Osten unterhalten. Die Betriebsräte fordern darin ihre Vorstände auf, sich »aktiv für eine konstruktive Lösung des Themas« einzusetzen. Man wolle eine »spürbare Bewegung in der Frage der Angleichung«, sagt IG-Metall-Bezirkschef Olivier Höbel.
Die würde auch Detlef Nagel gern sehen, »möglichst bevor ich in Rente gehe«, sagt der Mann vom Jahrgang 1959. Er ist sich im Klaren, dass es, anders als 2003, nicht um die sofortige Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollen Lohnausgleich gehen wird, sondern um einen über Jahre gestreckten Stufenplan. Er ahnt auch, dass die Arbeitgeber »schwere Geschütze« auffahren werden, um das Thema abzubügeln; bis jetzt, sagte Höbel vergangene Woche, setzten sie »auf Verweigerung«. Die konjunkturelle Lage aber, sagt der VW-Betriebsrat, sei dem Arbeitskampf so förderlich wie lange nicht. Er hofft deshalb inständig, dass sich etwas bewegt. Und falls nicht? »Dann weiß ich nicht, ob wir das jemals hinkriegen«.
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