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120 Dezibel: Die rechte Antwort auf #MeToo
Eine Social-Media-Kampagne der Identitären richtet sich gegen Sexualstraftäter mit Migrationshintergrund
Bei einer Lautstärke von 120 Dezibel liegt die Schmerzgrenze für das menschliche Ohr. Auf 120 Dezibel ist außerdem die Lautstärke des sogenannten Taschenalarms eingestellt, der an Frauen verkauft wird, die sich gegen Vergewaltigungen oder sonstige Übergriffe auf der Straße verteidigen wollen. »120 Dezibel« heißt nun die neue Kampagne der Identitären gegen sexualisierte Gewalt – nur gegen jene, die von Geflüchteten verübt wird.
»Ich wurde in Kandel erstochen, ich wurde in Malmö vergewaltigt, ich wurde in Rotherham missbraucht und ich wurde in Stockholm überfahren«, erzählen junge Frauen in dem Kick-off-Clip der Kampagne. Gemeinsam ist allen genannten Fällen von Femiziden, sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung, dass die mutmaßlichen Täter keinen Pass des jeweiligen europäischen Staates besaßen und geflüchtete oder zugewanderte Männer waren.
Der Clip schildert die aktuelle Situation für europäische Frauen als gefährlich. Die Frauen geben an, sich beim Joggen im Park und beim Warten an der Bushaltestelle in Gefahr zu fühlen, von Geflüchteten vergewaltigt zu werden: »Die Täter lauern überall.« Direkt für dieses Vergewaltigungsrisiko verantwortlich gemacht wird die Migrationspolitik der Bundesregierung: »Wir sind nicht sicher, weil ihr uns nicht schützt«, sagt eine Frau, »weil ihr euch weigert, unsere Grenzen zu sichern. Weil ihr euch weigert, zu kontrollieren, wer hier rein kommt. Weil ihr euch weigert, Straftäter abzuschieben.«
Angemeldet wurde die Homepage von Martin Sellner, einem bekannten Identitären-Aktivisten aus Wien. Unter den Hashtags #120db oder #120Dezibel twittern nun viele Nutzer*innen über die Gefahr sexueller Übergriffe durch Geflüchtete. Dabei werden auch Grafiken benutzt, die BKA-Statistiken zu deutschen und nichtdeutschen Sexualstraftätern zeigen sollen. Die rechten Nutzer*innen sind sich sicher: Die Vergewaltigungsgefahr steigt durch die Zuwanderer eklatant. Zu dieser These gibt es einigen Klärungsbedarf: Diskutiert werden muss über die Grenzen der Aussagekraft von Kriminalitätsstatistiken, über das Anzeigeverhalten von Betroffenen sexualisierter Gewalt und über mediale Berichterstattung.
1. Die Zahlen: BKA-Statistik zu sexualisierter Gewalt
Die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamt (BKA) listet insgesamt 6476 Männer auf, die im Jahr 2016 wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung angezeigt wurden – darunter 3964 Tatverdächtigen mit deutschem, 2512 Tatverdächtige ohne deutschen Pass. Obwohl die Mehrheit also deutsch ist, muss natürlich das Verhältnis berücksichtigt werden: Laut Statistischem Bundesamt leben rund 10 Millionen Menschen ohne deutschen Pass in Deutschland, die Gesamtbevölkerung wird mit 82,5 Millionen angegeben. Was die Zahl der Anzeigen angeht, werden prozentual tatsächlich wesentlich mehr Migrant*innen wegen Sexualdelikten angezeigt als »Deutsche«. Wie eine rechte Twitter-Nutzerin auf 819 angezeigte Asylbewerber pro Million Einwohner kommt, bleibt jedoch schleierhaft: Diese Zahl geht aus der offiziellen Statistik nicht hervor.
2. Anzeigeverhalten bei Vergewaltigung
Nun gilt es, diese Zahlen richtig einzuordnen. Zunächst ist insbesondere im Bereich sexualisierter Gewalt bekannt, dass die wenigsten Fälle überhaupt zur Anzeige gebracht werden. Die letzte repräsentative Studie zu Gewalt an Frauen wurde in Deutschland 2004 durchgeführt. Die Forscher*innen geben an, dass nur fünf Prozent der Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, diese auch zur Anzeige bringen. Die Aussagekraft der auf Anzeigen beruhenden Kriminalstatistik über die tatsächlichen Zahlen von Vergewaltigungen ist daher äußerst gering.
Zudem werden nur ganz bestimmte Fälle zur Anzeige gebracht, macht der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) deutlich: »Wir wissen: die allermeisten Gewalttaten gegen Frauen finden im eigenen zu Hause, durch Partner, Ex-Partner und Bekannte statt«, so Anna Hartmann, »aber diese Übergriffe werden sehr viel seltener angezeigt, als solche durch Täter, die den Frauen nicht bekannt sind.« Obwohl sogenannte »Fremdtäter« also in der Minderheit sind, kommen sie in der Statistik häufiger vor. Die verschiedenen Studien zu sexualisierter Gewalt an Frauen zeigen: Das Klischee der Joggerin im Park, die von einem bösen Mann aus dem Gebüsch angegriffen und vergewaltigt wird, entspricht nicht der überwiegenden Mehrzahl von Vergewaltigungsfällen, die eher in vertrauter Umgebung und zu Hause stattfinden.
3. Anzeigeverhalten gegen nichtdeutsche Täter
Laut bff steige die Anzeigetendenz allerdings an, wenn es sich bei dem mutmaßlichen Täter augenscheinlich um einen Nichtdeutschen handelt: »Geflüchtete, die Täter sind, werden zudem sehr viel häufiger angezeigt als Täter, denen eine deutsche Herkunft zugeschrieben wird«, so Hartmann. Eine ähnliche Verzerrung der Polizeilichen Kriminalstatistik hatte auch Christian Pfeiffer in seiner Kriminalitätsstudie für Niedersachsen festgestellt. Frühere Forschungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zum »Dunkelfeld« zeigen, dass die Anzeigebereitschaft »etwa doppelt so hoch« ist, wenn Opfer und Täter sich nicht kennen oder verschiedenen ethnischen Gruppen angehören, so die Studie. Demnach würden Flüchtlinge grundsätzlich besonders häufig angezeigt. Die Forscher verwiesen dabei auf die Erkenntnis von Kriminologen, dass Kriminalitätsstatistiken in vielen Fällen nicht das wirkliche Verbrechen zeigen, sondern nur das – unter Umständen unterschiedlich intensive – Vorgehen der Polizei, oder eben der Betroffenen gegen einzelne Delikte oder Tätergruppen.
4. Das Problem der Wahrnehmung: Medienberichte
Neben diesen statistischen Verzerrungen spielt die Wahrnehmung in der Einschätzung des Vergewaltigungsrisikos eine zentrale Rolle. »Taten durch geflüchtete und nicht-weiße Täter werden sehr viel mehr in der medialen Öffentlichkeit diskutiert«, sagt bff-Sprecherin Hartmann. Tatsächlich gab es 2017 kaum einen Frauenmord, der so stark diskutiert wurde wie der Femizid in Kandel – wobei hier das außergewöhnlich junge Alter des Opfers und des Täters eine Rolle gespielt haben mögen. Es ist beachtenswert, dass von 158 Frauen, die 2016 von ihrem Partner getötet wurden, kaum ein Fall es in überregionale Medien schaffte. Ähnliches gilt für Vergewaltigungen. Wird jedoch nur über Fälle berichtet, in denen ein Geflüchteter der mutmaßliche Täter ist, erweckt dies den Eindruck, die meisten Femizide und Vergewaltigungen würden von Geflüchteten verübt – der 120-Dezibel-Clip zeigt dies in Reinform.
Wie verzerrt die Realitätswahrnehmung in der radikalen Rechten ist, hat der »Spiegel« in einem ausführlichen Artikel über den Begriff der »Rapefugees« dargelegt. »Wer auf Facebook-Seiten mit Namen wie Heimatliebe.Deutschland, Truth24.net oder irgendeine AfD-Ortsgruppe gelikt hat, starrt bald in eine parallele Realität, in einen Abgrund«, schreiben die Autor*innen: »Tagtäglich spült das soziale Netzwerk Meldungen über grauenhafte Gewaltverbrechen und Vergewaltigungen in die Timeline. Bilder zeigen arabisch oder afrikanisch aussehende Männer, dazu panisch in die Kamera blickende Frauen, denen jemand von hinten den Mund zuhält, oder Kinder, die zusammengekauert im Schatten sitzen.« Der »Spiegel« geht in dem Beitrag sämtlichen auf einer »Rapefugee«-Karte angezeigten Fällen von sexualisierter Gewalt durch Asylsuchende nach. Von 291 behaupteten Sexualdelikten von Geflüchteten bleiben am Ende 95 Vorfälle übrig – insgesamt kam es zu 51 Verurteilungen.
»Gewalt gegen Frauen ist immer Unrecht. Rassismus ist es auch«, stellt Hartmann fest. 120 Dezibel ist der rechte Versuch, eine rassistische Antwort auf #MeToo zu finden – und die Verantwortung für sexuelle Übergriffe auf Migrant*innen abzuschieben. Die Kampagne folgt dabei dem gängigen Muster, den Feminismus von rechts zu missbrauchen, vor dem auch Cornelia Möhring warnt, Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag für feministische Politik: »Es ist unerträglich, aber leider auch nichts Neues, dass die Rechten das Thema sexualisierte Gewalt instrumentalisieren, um ihre menschenverachtende und rassistische Hetze zu verbreiten.« Nicht die Debatte um die Herkunft der Täter werde politisch gebraucht, »sondern bessere und umfassende Präventionsprogramme an Schulen, eine effektivere Strafverfolgung bei sexualisierter Gewalt und eine bessere Finanzierung von Frauenberatungsstellen«.
Auch die Fachanwältin Christina Clemm warnte im nd-Interview vor der Instrumentalisierung der #MeToo-Problematik von rechts. Die Zahlen zeigten doch, so Clemm, dass sexualisierte Gewalt »ein gesamtgesellschaftliches Problem« sei. Dies zeigen repräsentative Studien zu Gewalt an Frauen – neben bereits erwähnten aus dem Jahr 2004 gibt es nur eine spätere große Studie, die EU-Studie zu Gewalt an Frauen aus dem Jahr 2014. Was Frauenrechtler*innen seit Jahren monieren, gilt in Zeiten rechter Instrumentalisierung der Kriminalitätsstatistik umso mehr: Eine solide Ausforschung der Problematik sexualisierter Gewalt ist dringend notwendig.
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