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Die Möglichkeit einer Liebe
Warum Michel Houellebecq von allen lebenden europäischen Schriftstellern der bedeutendste ist
Weshalb ist dieser Mann nur so verdammt erfolgreich? Auf dem europäischen Kontinent sorgt kein Schriftsteller so häufig für Diskussionen wie Michel Houellebecq. Wenn er im Fernsehen auftaucht, schnellt die Quote nach oben. Wo er auftritt, sind die Hallen überfüllt. Dabei kann er weder besonders eloquent reden, noch sieht er im klassischen Sinne gut aus. Houellebecq könnte auch ein Versicherungsvertreter sein. Selbst während seiner inszenierten Lotterphase vor drei Jahren keimte da kein Charisma.
Seine öffentlichen Äußerungen klingen oft provokant. Trotzdem gehen sie selten über lieblos Dahingeworfenes hinaus. Außerdem hat er ein Problem mit der Aussprache. Die Feuilletonistin Iris Radisch beschreibt das in ihrem Buch »Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben« sehr treffend: »Die Satzmelodie, die im Französischen in der Regel ein munteres Plätschern ist, das eine Flotte kleiner Papierschiffchen auf den Gesprächswogen auf und ab hüpfen lässt, ist bei ihm ein Basso continuo im tiefsten Satzmelodienkeller.«
Er taugt nicht zum Sympathieträger und nicht zum Bösewicht. Seine Marotte, mit leerem Blick an der zwischen Mittel- und Ringfinger klemmenden Zigarette herumzukauen, lässt ihn bestenfalls als einen jener Freaks durchgehen, die man früher auf dem Schulhof nicht einmal gemobbt hätte. Außerdem ist Houellebecq kein genialischer und auch kein zur Produktion von Bestseller-Einheitsware neigender Literat. Meist weigert er sich, einen runden Handlungsablauf zu entwerfen. Seine vordergründigen Themen - Religion und Sex - haben Marquis de Sade, Pier Paolo Pasolini und Charles Bukowski schon vor Urzeiten tabuloser durchgekaspert.
Vor allem zeichnen sich die Romane durch eine eklatante Abwesenheit von Stil aus. Lustigerweise liegt genau darin eine Erklärung verborgen, mit der sich dem Phänomen Houellebecq auf die Spur kommen lässt. »Ich versuche, keinen Stil zu haben«, sagte er einmal. Das ist natürlich ein Paradox, denn der Versuch, keinen Stil zu haben, ist bei ihm ein präzise herausgearbeitetes Stilmittel. Das passt zu einer weiteren Besonderheit, die die Literaturkritikerin Julia Encke in ihrem Buch »Wer ist Michel Houellebecq?« herausstellt.
Die Romanhelden des französischen Starautors seien nicht etwa kraftstrotzende, von behüteter sozialer Herkunft mit Weltveränderungsselbstbewusstsein beschenkte Männer und Frauen. Es seien auch nicht die Verlierer, Außenseiter und Straftäter. Nein, er rücke die Durchschnittlichen ins Licht, also »Sekretärinnen, Techniker, Büroangestellte, Kader«. Deren monotones Leben finde Widerhall in einer bürokratischen Sprache, in der Houellebecq sein fiktives Personal abenteuerliche Theorien entwickeln, absonderliche Ausschweifungen praktizieren und die Abgefucktheit mit allem und jedem sakralisieren lasse.
Die Popularität dieses Schriftstellers, der Ende Februar 60 Jahre alt wird, beruhe neben dieser für die europäische Literatur ungewöhnlichen Methode auf einem Taschenspielertrick: »Er legt es darauf an, die psychologische Lesart seiner Bücher ins Leere laufen zu lassen.« Tatsächlich verschiebt Houellebecq lustvoll die Grenzen zwischen Werk und Person. Das liefert diskussionsfähige Themen für die Meinungsmacher aller Länder, die sich beim Erscheinen jedes neuen Houellebecq-Romans vereinigen und offenbar nichts zu verlieren haben als ihre Wetten, wie rechts, reaktionär und frauenverachtend die Figuren sich diesmal wieder aufführen mögen.
Das verhilft den Büchern zu einem Verkaufserfolg, der ohne Betriebsgetöse kaum möglich wäre. Weil es allzu viele bis heute nicht fertigbringen, einen literarischen Text von einem politischen Pamphlet zu unterscheiden, nutzt Houellebecq die regelmäßigen Rufmordversuche für sich und bedient gewinnbringend die Empörungsmaschinerie. Eine Qualität, die der Debattenrambo im Laufe der Jahre perfektioniert hat.
Nach dem Erscheinen seines Debütromans »Ausweitung der Kampfzone« (1994) musste sich Houellebecq als Rassist, Chauvinist und Misanthrop titulieren lassen. Mit diesem großen Werk präsentierte er nach dem scheinbaren Ende der Geschichte eine künstlerische Liberalismuskritik, die bis heute jeden im Glauben an eine Versöhnlichkeit von sozialer Demokratie und Kapitalismus aufgewachsenen Zwanzigjährigen fundamental aus den Socken hauen kann.
1998 erschien der Roman »Elementarteilchen«, die Geschichte der Halbbrüder Bruno und Michel. Weil sie (wie Houellebecq) von einer ebenso hedonistischen wie gefühlskalten 68er-Mutter erzogen wurden, hat sich der eine zur sexsüchtigen Maschine und der andere zum soziophoben Sonderling entwickelt. Bruno ertränkt seine beschädigte Seele in der totalen Verausgabung, Michel arbeitet als Wissenschaftler lieber daran, die Sexualität abzuschaffen. Wahrer Humanismus, so steht es am Schluss des Buches, könne es nur mit künstlichen Menschen geben. Harter Stoff. Und schon wieder fielen jene über ihn her, die Kunst nur anerkennen, wenn gute Menschen sie produzieren und der Inhalt dem Gesinnungskatalog des liberalen Bessermenschentums entspricht.
Was tat Michel Houellebecq? Julia Encke zitiert mehrere Interviewaussagen, die ihn als vom öffentlichen Sturm der Entrüstung genervten, diesen aber clever in eigener Sache nutzenden Image-Kreateur zeigen. Seine medizinische Vision, die bisher nur auf der Klitoris der Frau und der Eichel des Mannes angesiedelten erogenen Punkte am ganzen Körper zu verteilen, verlieh ihm die Aura des sinnlichen Genießers. Zum Gegner aller Lebensfreuden stieg er ab, nachdem ihn ein Journalist fragte, ob er alles verdamme, was ’68 angehe, und er antwortete: »Ja, alles.« Einen Satz, der ihn als Kommunisten kennzeichnen könnte, verlor er Ende der 90er Jahre: »Ungleichheit besitzt für mich keine positiven Aspekte.« Als Houellebecq kurz nach dem Erscheinen von »Plattform« (2001) den Islam als »dümmste aller Religionen« bezeichnete, da mimte er schon wieder einen Rechten.
Obwohl in »Plattform« ein ägyptischer Gentechniker mitteilt, der Islam habe »nur im Stumpfsinn einer Wüste« entstehen können, »inmitten dreckiger Beduinen, die nichts anderes zu tun hatten, als ihre Kamele zu ficken«, geht es in diesem Buch gar nicht allein um Religion. Wichtiger ist, wie in den Vorgängerromanen auch, der sich in der Verzweiflung der Protagonisten spiegelnde Verlust aller Liebe. Selten hat jemand das Elend des Sextourismus origineller und niederschmetternder nachgezeichnet.
In seinem am meisten unterschätzten Roman »Die Möglichkeit einer Insel« (2007) komponiert Houellebecq eine Elegie auf die Gegenwart, deren nüchterner Stil dieser menschenfeindlichen Welt eine formale Fratze verleiht. In den Hauptfiguren überlebt trotzdem die romantische Hoffnung, dass es da draußen so etwas geben könnte wie Liebe.
Die Öffentlichkeit degradiert ihren Houellebecq dennoch am liebsten zum rechten Religionsfeind. Eine Rolle, die ihm erst nach der Veröffentlichung von »Unterwerfung« (2015) unangenehm wurde. In diesem Roman beschreibt er ein Frankreich zu Anfang des kommenden Jahrzehnts, das von einer muslimischen Partei regiert wird. Das liberale Establishment hat ihr zur Macht verholfen, weil zur Stichwahl im Kampf um die Präsidentschaft als einzig verbliebener Gegner der Front National antrat. Am Erstverkaufstag des Buches stürmten islamistische Attentäter die Redaktion der französischen Zeitschrift »Charlie Hebdo« und ermordeten elf Menschen, darunter einen engen Freund Houellebecqs. In dieser Zeit trat er plötzlich empfindsam und differenziert auf.
Wer also ist Michel Houellebecq? Julia Encke liefert viele Anhaltspunkte, die diesen Mann als literarischen Unruhestifter mit Generalschlüssel zu den kollektiven Befindlichkeiten dieser Gesellschaft erscheinen lassen. Im Kern, das schreibt auch Encke, ist sein bekanntester Roman »Unterwerfung« das Psychogramm einer in Schieflage geratenen Demokratie und eine poetische Kritik der Kollaboration, die gerade in Frankreich eine unheilvolle Geschichte hat. Das klingt doch ziemlich links. Seine Bücher, wiederholt er immer wieder, seien nicht islamophob. Außerdem habe jeder das Recht, ein islamophobes Buch zu schreiben. Das klingt doch ziemlich liberal.
Julia Encke: Wer ist Michel Houellebecq? Porträt eines Provokateurs. Rowohlt, 256 S., geb., 19,95 €.
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