Werbung

Die tiefen Wunden von Mossul

UN-Kinderhilfswerk weist mit Hilferuf auf die desolate Lage trotz Befreiung vom IS hin

  • Karin Leukefeld
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Drohnenkamera der russischen Nachrichtenagentur Ruptly TV folgt den freigeräumten Straßen. Die niedrigen, traditionellen Lehm- und Schenaschil-Häuser mit ihrem markanten Holzerkern rechts und links sind zerstört. Aus den Trümmern ragen bizarr aufgerichtete Autowracks hervor, dann sieht man von Staub bedeckte Leichen: ein Mädchen in einem zerrissenen Kleid, die blonden langen Haare sind in einem Zopf nach hinten zusammengeflochten. Hinter ihr ragt ein Arm aus den Trümmern, die Hand geöffnet, als wolle sie nach etwas greifen. Darunter ein anderer Arm. Ein Kopf mit kurzem verstaubtem schwarzen Haar und verbranntem Gesicht wird von einem Autoreifen bedeckt, erst auf den zweiten Blick sieht man auch hier einen Arm, der unter dem Fahrzeug hervorragt. Er unterscheidet sich kaum von den Trümmern, auf denen er liegt. Einwohner versuchen die Toten mit Schaufeln, Stöcken, mit den bloßen Händen zu bergen. Hilfe aus Bagdad oder von der internationalen Koalition gibt es nicht.

Die fast ununterbrochenen Luftangriffe der US-geführten «Anti-IS-Koalition» hatten im Oktober 2016 begonnen. Im Juli 2017 hatten sich die Spezialeinheiten der irakischen Regierung bis in die Altstadt hin vorgekämpft. Die Elite des «IS» hatte sich zu dem Zeitpunkt schon längst Richtung Westen, nach Syrien aufgemacht oder war - auf offiziell ungeklärten Wegen - dem Inferno entkommen. Viele Kämpfer hatten sich mit ihren Familien unter die Flüchtlinge gemischt, die in endlosen Schlangen auf Aufnahme in einem der internationalen Flüchtlingslager östlich von Mossul hofften.

Im Juli 2017 wurde die «Befreiung» von Mossul verkündet. Die Überlebenden sind seitdem vor allem damit beschäftigt, Trümmer zu beseitigen und Tote zu begraben. Die Trümmerlandschaft jenseits des Flusses, das alte Mossul, wurde vergessen.

Nach UNO-Angaben sollen «mindestens 2521 Zivilisten bei der »Befreiung« von Mossul getötet und 1621 verletzt worden sein. Das Leichenschauhaus in Mossul nennt andere Zahlen. Dem US-Radio NPR sagte Direktor Raid al-Abadi, dass zwischen Oktober 2016 und Juli 2017 genau 4865 Totenscheine ausgestellt worden seien. »Es gibt noch ganze Familie, die unter den Trümmern begraben sind«, so Al-Abadi. »Wir müssen sie noch bergen.« 400 Tote seien noch nicht identifiziert, Tote seien in Parks und Gärten beerdigt worden.

Das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) weist auf die desolate Lage der Kinder in Mossul-Stadt und Umland hin. Bis zu 750 000 Kinder hätten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Nur zehn Prozent der ursprünglichen Kliniken, Praxen und Gesundheitszentren seien intakt, mehr als 60 medizinische Einrichtungen seien durch die Kämpfe seit 2014 ganz oder teilweise zerstört. »Für Schwangere, Neugeborene und Kinder« sei die Lage alarmierend, sagte der UNICEF-Vertreter in Irak, Peter Hawkins nach einem Besuch des Al-Khansa-Krankenhauses in Mossul.

Hintergrund des UNICEF-Hilferufes dürfte eine Geberkonferenz für Irak sein, die vom 12. bis 14. Februar 2018 in Kuwait-City stattfinden wird. UNICEF will dort 17 Millionen US-Dollar einwerben, um Gesundheitszentren in Irak besonders für die Kinder wiederaufzubauen.

Diese und vieles andere werden dringend gebraucht, heißt es in einem offenen Schreiben des BRussel Tribunal, einem Zusammenschluss irakischer Oppositioneller und internationaler Experten, die sich seit Jahren mit der desolaten Lage in Irak befassen. »Alle Iraker freuen sich, Wiederaufbau statt Zerstörung« in ihrem Land zu erleben, heißt es in einem offenen Brief. Dennoch lehnen die Autoren eine erneute Geberkonferenz ab. In den vergangenen 14 Jahren habe der Irak »Hunderte Milliarden US-Dollar erhalten, ohne das es irgendetwas gebracht« habe. Irak versinke in Gewalt und Zerstörung, staatliche Institutionen kollabierten, das Geld sei »in korrupten Taschen« gelandet. Als Alternative schlägt das BRussels Tribunal vor, die Konferenz oder zumindest die Zahlung von Geldern zu verschieben, bis eine neue, zuverlässige Regierung und professionell ausgebildete Experten im Amt seien, die real für den Aufbau Iraks arbeiten und sich nicht bereichern würden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.