Es gibt keine Wahrheit
Duncan Mac Millans »Menschen, Orte, Dinge« am Berliner Ensemble
»Ich will leben, will lebendig sein«, sagt die drogensüchtige Schauspielerin Emma. Für ein sinnhaftes Leben will sie sich wappnen, indem sie sich selbst in eine Drogenheilanstalt einliefert. Auf diesen Befreiungsversuch war sie während einer Vorstellung von Tschechows »Die Möwe« gekommen, in der sie die Rolle der unglücklichen Nina spielte. Alles war ihr darin so leer und unglaubwürdig vorgekommen, auch ihr eigenes Spiel. Deshalb will sie die »eigene Spur« wiederfinden.
In der Anstalt eingetroffen, ruft sie die Mutter an und fordert sie auf, ihre, der Tochter, Drogen und Alkoholika zu vernichten. Der von ihr gegenüber der Mutter angeschlagene Ton lässt erkennen, dass es auch der Mangel an elterlicher Empathie war, der sie die Spur verlieren ließ.
In der Anstalt vollziehen sich seltsame Szenen, Ausbrüche, Selbsterniedrigungen und Lebensbeichten. Sie stehen unvermittelt im Raum, erhellen einander nicht gegenseitig und haben keinen Sinnzusammenhang. Der drogensüchtige Paul hat seinen Freund vermutlich durch Aids verloren und wird von der Angst verfolgt, geheime Wesen könnten sein Blut aussaugen. Der leisetreterische Rezeptionist Foster ist so etwas wie der Einpeitscher der Heimregularien, und die Ärztin führt ein Aufnahmegespräch, in dessen Verlauf sie die Zeit für Emmas Genesung mit 28 Tagen veranschlagt. Voraussetzung dafür, dass sich die Patientin einer totalen Macht unterwirft, was Emma zum rebellischen Protestausbruch provoziert. In diesem Moment zitiert sie Foucault und dessen Behauptung: »Es gibt keine Wahrheit, nichts ist echt.«
Unterschwellige Konflikte zwischen den Heimbewohnern werden im Rollenspiel ausgetragen. Emma muss nacheinander einen diktatorischen Chef, Vater, Mutter und Bruder geben. Die Dialogpartner treten als Stimmen aus dem Off oder in leiblicher Gestalt in Erscheinung. Von Emma einst gespielte Rollen nehmen Gestalt an. Ob künstlerische Widerspiegelung oder die Realität glaubwürdiger sind, bleibt eine unbeantwortete Frage. Emma ist bestürzt, dass ihr der Tod des Bruders in der Rolle der Antigone mehr Tränen abgefordert hat als der Tod ihres Bruders in der Realität. Eine emphatische Lobpreisung der Schauspielkunst schließt sich an. Fortan stellt sich Emma nicht mehr als Schauspielerin, sondern ganz einfach als Möwe vor. Schein und Sein, Figur oder reale Person durchdringen sich, es gibt keine gültige Wahrheit.
Am Ende will sich Emma nach fataler Erfolglosigkeit mit den Eltern aussprechen. Der Graben aber ist zu tief. Der Vater beklagt, dass nicht die Tochter, sondern deren Bruder zu Grabe getragen wird. Das Ganze endet in einem erfolglosen Vorsprechen Emmas. Den Monolog des Don Quichote spricht sie abwechselnd in gehobener Bühnensprache und in Alltagsdeutsch. Erfolg hat sie trotzdem nicht.
Regisseurin Bernadette Sonnenbichler hat versucht, die seelischen Krisen der Figuren in die expressive Sprache des Theaters zu übersetzen. Wenn Emma den Boden unter den Füßen verliert, hören und sehen wir einander überschlagende und zerberstende Wellen über schwankendem Bühnenboden, eine junge Tänzerin wird zum Alter Ego der Hauptfigur und transponiert deren innere Nöte in die Zuckungen des Körpers.
Schauspielerisch getragen wird der Abend von der jungen Sina Martens, die im Jahre 2017 von der Zeitschrift »Theater heute« zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres ernannt wurde. Die hat eine erstaunlich breite Skala an Tönen und Gebärden. Im jähen Wechsel ist sie die trotzig rebellierende Göre, die selbstzerstörerische Aussteigerin, die leidenschaftliche politische Aktivistin. Kleinlaut bekennt sie, der Forderung der Ärztin entsprechend, sie sei auf Hilfe angewiesen und gegenüber der Mutter schreit sie die angestaute Wut über vergangenes Unrecht heraus. Unnötig allerdings der Hang zum Illustrieren des Textes. Die Behauptung sportlicher Betätigung muss nicht mit körperlichen Verrenkungen unterstrichen werden. Die größte emotionale Berührung erreicht sie mit ihrer tief empfundenen Liebeserklärung an die Schauspielkunst.
Das Hauptthema des Stücks, den Verlust menschlicher Nähe und Geborgenheit, trifft auf exemplarische Weise Axel Werner als Vater. Fast tonlos und im schleppenden Gang macht er die tiefe Enttäuschung über die Tochter glaubhaft ebenso wie seine ungebrochene Liebe zu ihr. Das stammelnd heisere »Auch ich liebe dich« wird in Erinnerung bleiben.
Nächste Vorstellungen: 20./24./ 25. Februar
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