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Im Tollhaus der Trantüten
Ein denkwürdiger Abend an der »Volksbühne Berlin«: Helmut Berger und Ingrid Caven in »Liberté« von Albert Serra
Das Engagement des vom genussvollen Leben gezeichneten 73-Jährigen galt als Coup des neuen Volksbühnen-Intendanten Chris Dercon. Neben diesem Megastar kündigten sich weitere Primadonnen an: Ingrid Caven (die 78-jährige Witwe Rainer Werner Fassbinders), Anne Tismer (die große Titelrollen in Inszenierungen von Thomas Ostermeier hatte), Jeanette Spassova (ein Ensemblemitglied der Castorf-Volksbühne) und der katalanische Regisseur Albert Serra, dessen bombastischer Kostümfilm über das Sterben des Sonnenkönigs Ludwig XIV. vor zwei Jahren für Aufsehen sorgte. Worum auch immer es nun in dem von Dercon als »Volksbühne Berlin« gebenchmarkten Haus gehen mag, so dachten viele vorab, bei diesem Tableau kann am Rosa-Luxemburg-Platz eigentlich nur feinstes »Guilty Pleasure« entstehen.
Zumal »Liberté«, für das Serra selbst den Text geschrieben hat, im ausschweifenden 18. Jahrhundert spielt. Kurz vor der Französischen Revolution entkommen einige Hedonisten der ultrakonservativen Regierung Ludwigs des XVI. Sie landen irgendwo zwischen Potsdam und Berlin. Mithilfe des legendären deutschen Freidenkers und Verführers Duc de Walchen (Helmut Berger) wollen sie die Libertinage nach Preußen bringen. Das war dann auch schon alles, was zum Plot zu sagen ist, denn während der Uraufführung gingen am Donnerstagabend sämtliche Maßstäbe verloren, mit denen sich ein Theaterabend in Worte fassen lässt.
Wer auch nur ein wenig Erfahrung mitbrachte, dem dämmerte schon nach zehn Minuten, dass er hier Historischem beiwohnen durfte. Dafür sprachen nicht nur die ausladenden Rokoko-Kostüme von Rosa Tharrat oder das pompöse Wald-und-Wiesen-Bühnenbild von Sebastian Vogler. Auch ließ nicht nur die altbacken stilisierte Sprache auf Geschichtliches schließen. Nein, phänomenal war vor allem die Art und Weise, wie Licht, Bewegung, Lautstärke, Tempo und die Interaktion der Figuren sich in diesem Stück bereits früh zu einer erbärmlich schlechten Gesamtkomposition vereinten.
Lange dauerte es nicht, da riefen in hinteren Reihen platzierte Parkettsitzer erstmals: »Lauter!« Die Inszenierung ist absichtlich im Flüsterton gehalten. Das wird auch bei den nächsten Vorstellungen den Ärmsten auf den kostengünstigen Plätzen jedoch überhaupt nichts bringen, denn die mikroportverstärkten Stimmen sind sogar vorn nicht zu verstehen - weder akustisch noch inhaltlich. Die Schauspieler finden keinen Bezug zu ihrem Text. Als ein Geschäftsmann den Libertins polynesische Frauen anbietet, bringen sie diesen selbst für damalige Verhältnisse ungeheuerlichen Menschenhandel so uninspiriert und dilettantisch auf die Bühne, dass sich ein Verdacht erhärtet: Die Leute scheinen kaum zu kapieren, was sie da trantütig vortragen müssen.
Kein Wunder, hat der des Deutschen nicht mächtige Serra doch ein deutsch-französisch-rumänisch-italienisches Ensemble zusammengestellt, das den zähen Text nur so radebrechend herausbekommt, dass sogar die mit den englischen Übertiteln betrauten Techniker selten rechtzeitig die richtigen Sätze einblenden können.
Wenn das die Internationalität sein soll, die Chris Dercon den ach so rückwärtsgewandten Berlinern versprochen hat, dann werden Neuköllner Hipster bald lieber ins Volkstheater Varianta nach Spandau fahren, als sich in dieser Volksbühne ästhetisch martern zu lassen. Womit wir bei der nächsten Katastrophe wären. Offenbar will diese Darbietung die ästhetischen Erwartungen und Sehgewohnheiten des Publikums unterlaufen. Wo aber die Provokation intendiert ist, da manövriert sich diese zweieinhalbstündige Zumutung für den geneigten Zuschauer in eine Herausforderung ganz anderer Art. Je häufiger die edlen Damen und Herren in ihren prächtigen Sänften mit unfreiwilligem Gestolper auf der Bühne umhergeschleppt und je mehr prüde Liebesszenen imitiert werden, umso schwerer fällt es, die Schamesröte selbst in diesem viel zu dunkel ausgeleuchteten Setting zu verbergen.
Einige Pleiten und Pannen muss anstandshalber an dieser Stelle der Mantel des Schweigens verbergen. An den Reaktionen im Raum ist deren Dimension zu ermessen: Das Husten erlebte bei dieser Premiere als Übersprunghandlung eine Wiedergeburt. Menschen litten und seufzten, sie tuschelten und schnäuzten sich, sie staunten und lachten sich ins Fäustchen. Wer den Saal nicht vorzeitig verließ, der ahnte, wie ernst es dem Kritiker Alfred Kerr war, als er einst schrieb: »Als ich um zehn Uhr auf die Uhr schaute, war es erst halb neun.«
Helmut Berger hat glücklicherweise lediglich zwei Kurzauftritte. Er, über dessen angebliche Umnachtung sich der Boulevard so gern das Maul zerreißt, spielt seinen Part souveräner herunter als alle anderen, und Ingrid Caven bewahrt in der Rolle der Duchesse de Valselay ihre Würde. Mit Ausnahme der letzten Szene, in der sie zu singen anfängt. Dieses allüberall einsetzende Gelächter, diese offen stehenden Münder, dieses in der Luft liegende Mitleid, all das hat diese große Schauspielerin nicht verdient.
Was mag sie nur bewogen haben, das Angebot der »Volksbühne Berlin« anzunehmen? Ein Hauch des Geschmacklosen umweht in jedem Fall die Leitung dieses Theaters, die mehrere Großkünstler aufmerksamkeitsökonomisch vereinnahmt hat und während des Probenprozesses nicht eingeschritten ist, um dieses peinliche Event zu verhindern.
Nächste Vorstellungen: 24., 25. Februar
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