Besetzt!
Wieso gewinnt die absurde These, wonach die Bundesrepublik Deutschland noch immer von den Alliierten heimlich beherrscht werde, derzeit an Popularität?
Deutschland ist nicht frei! Es wird von dunklen, angelsächsischen Mächten geknechtet, ist ferngesteuert von einer hinter den Kulissen agierenden Besatzungsmacht, der die deutsche Regierung in Wahrheit dient. Unter all den wirren Obsessionen, mit denen die Neue Deutsche Rechte im Überfluss gesegnet ist, sticht die populäre Besatzungsfantasie durch ihre vollendete Loslösung von der Realität noch hervor. Hier geht Ideologie in bloße Weltanschauung über. Während die Bundesrepublik im Gefolge der Eurokrise mittels Schäubles Spardiktat zur unumstrittenen Führungsmacht Europas aufstieg, während die deutsche und die französische Regierung gerade über eine eigenständige militärische Strategie, mithin über die europäische Bombe verhandeln, gewinnen in den blühenden politischen Wahnräumen zunehmend Ängste vor - zumeist US-amerikanischer - Fremdherrschaft an Boden.
Bekanntlich waren es die im Wahlkampf publik gewordenen Wahnvorstellungen der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel aus einer Quelle, die der »Welt am Sonntag« vorliegen soll, die dieser Besatzungsfantasie zur bundesweiten Prominenz verhalfen. Laut einer E-Mail Weidels, die sie noch vor ihrer AfD-Kandidatur verschickt habe, sei die Bundesrepublik gar nicht souverän, die Regierung bestehe aus - so wörtlich - »Schweinen«, bei denen es sich um »Marionetten« der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges handele. Diese, in Gestalt der USA, sollen also immer noch, gewissermaßen hinter den Kulissen, die Bundesrepublik fernsteuern.
Diese Besatzungsfantasie ist aber nicht nur in der Neuen Rechten populär, sie ist Teil des weltanschaulichen Schmierstoffs der jungdeutschen Querfronttendenzen. Auch das in offene Regression übergehende sozialdemokratische Urgestein Albrecht Müller, seines Zeichens Chef der einflussreichen »Nachdenkseiten«, hat sich dieser Wahnvorstellung anlässlich der NSA-Abhöraffäre hingegeben. Die Selbstverständlichkeit, dass auch verbündete kapitalistische Staaten untereinander Spionage betreiben, verleitete Müller - unter Verweis auf die Stationierung von US-Truppen in der BRD - zu der Behauptung, dass es »nichts Neues« sei, dass »Deutschland kein souveräner Staat ist«.
Seinen Ursprung hat der neudeutsche Besatzungswahn im Milieu der »Reichsbürger«, einer ins Terroristische abdriftenden, sektenartigen Rechtsbewegung, die der Bundesrepublik jegliche Legitimität abspricht und das Deutsche Reich, das nicht untergegangen sein soll, als Hort deutscher Souveränität imaginiert. Diese Besatzungsfantasie ist somit einerseits ein Moment des Verschwörungswahns, dem sich die Rechte allgemein gerne hingibt. Eine hinter den Kulissen agierende Verschwörung von Weltbösewichten wird für alle möglichen Widersprüche und negativ empfundenen Folgen kapitalistischer Vergesellschaftung verantwortlich gemacht. Meistens werden diese irrationalen Reflexe durch Krisenschübe ausgelöst. Weidel sah ja in der wachsenden Zahl der Flüchtlinge einen Akt des Verrats am »deutschen Volk«, der auf Weisung der Alliierten erfolgt sein soll, um »das deutsche Volk klein zu halten« durch »Überfremdung« und »molekularen Bürgerkrieg«.
Dieser fantastische Wahn hat aber durchaus einen realen Kern: Das weit verbreitete Gefühl der Heteronomie, dass man gewissermaßen »ferngesteuert« werde, dass Politiker nichts weiter als »Marionetten« »dunkler Mächte« seien, resultiert aus der Ahnung dessen, dass der Mensch nicht Herr seines gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist, dass dieser durch die fetischistische Bewegung uferloser Kapitalverwertung eine Eigendynamik gegenüber den oftmals ohnmächtigen Gesellschaftsmitgliedern entwickelt. Der Kapitalismus sei eine Gesellschaftsformation, »worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert«, bemerkte hierzu etwa Karl Marx in seinem Hauptwerk »Das Kapital«. Der Weg zur Verschwörungstheorie ist folglich vor allem in all jenen politischen Zusammenhängen nicht mehr weit, die alltäglich beim Hauen und Stechen um Posten und Pöstchen zum Mittel der Verschwörung greifen - die eigenen Erfahrungen bei der politischen Karriere, etwa beim Aufstieg in populistischen Formationen, werden dann auf die gesamtgesellschaftliche Dynamik kapitalistischer Widerspruchsentfaltung projiziert.
Diese spezifisch deutsche Besatzungsfantasie aber, die in altlinken wie neurechten Zirkeln Anhänger findet, resultiert aus der konkreten Geschichte wie Gegenwart der Bundesrepublik. Selbst Gesellschaften der Semiperipherie wie etwa Polen, wo eher antisemitisch konnotierte Verschwörungstheorien kursieren, bringen, trotz jüngster Truppenstationierungen, solche Fieberträume von angelsächsischer Fremdherrschaft nicht hervor. Zum einen ventiliert die deutsche Rechte hier ihren Hass auf den »undeutschen« Zivilisationsprozess, auf die etablierten bürgerlich-demokratischen Normen, die im Gefolge der dekadenlangen Westbindung, wenn auch oberflächlich, etabliert wurden - und die als dem »deutschen Wesen« fremd, als eine Art Fremdherrschaft über das autoritätshörige »deutsche Kulturvolk« begriffen werden. Letztendlich, dies wird gerade bei den »Reichsbürgern« evident, geht es beim Schattenboxen gegen die »Fremdherrschaft« der Alliierten um einen reaktionären Rollback bürgerlich-liberaler Mindeststandards, die durch ein autoritär-nationalistisches Regime, ein neues deutsches »Reich« ersetzt werden sollen.
Für die »Reichsbürger« ist der Kalte Krieg gewissermaßen nie zu Ende gegangen. Westdeutschland agierte in der Periode des Kalten Krieges als ein Teilstaat des westlichen Bündnissystems, der tatsächlich mit begrenzter Souveränität ausgestattet war. Für die Neue Rechte dauert dieser Zustand, fantasievoll ausgeschmückt, weiterhin an. Für sie kann die - ohnehin faktisch rasch erodierende - Westbindung der BRD nicht Folge des Machtkalküls deutscher Funktionseliten sein, etwa im Hinblick auf die Absatzmärkte deutscher Exportindustrie im Westen, sondern nur Ausdruck fortwirkender Unterwerfung unter das Diktat der Siegermächte. Hier treffen sich neurechter Opferwahn mit den Zersetzungsprodukten des altlinken Antiimperialismus aus der Spätphase des Kalten Krieges, der mit seinem dumpfen Antiamerikanismus anschlussfähig wird an solche reaktionären Narrative.
Diese Besatzungsfantasie samt Opferwahn sind aber gerade nicht ein Produkt gegenwärtiger deutscher Schwäche, sondern deutscher Stärke. Das Milieu, das solche Wahnideen hervorbringt, bildet die ideologische Avantgarde deutschen Chauvinismus und Großmachtstrebens. Es ist eine konformistische Rebellion, der die reale Machtentfaltung der deutschen Bundesregierung nicht schnell genug vonstattengehen kann. Deutscher Chauvinismus, deutsches Machtstreben können so aus ihrer furchtbaren historischen Tradition herausgelöst und als Akt der Notwehr gegen die heimliche Fremdherrschaft imaginiert werden. Und dies ist ein vertrautes Element nationalistischer und faschistischer Ideologie: Dieser neudeutsche Besatzungsglaube erinnert an die gegenwärtigen Auswüchse etwa des türkischen Nationalismus, der sich bei seinem Expansionsstreben ebenfalls einer übermächtigen Verschwörung von Großmächten gegenüber sieht, die die Türkei »klein halten« wollen. Jedes Mal, wenn sich die Dinge innen- oder außenpolitisch nicht nach dem Willen der Propagandisten dieser Besatzungsthese entwickeln, kann es sich nur um finstere Machenschaften des alliierten Besatzerregimes handeln.
Dies war ja bei den Äußerungen Albrecht Müllers der Fall, der sich eine rasche Loslösung der BRD aus dem westlichen Bündnissystem wünscht. Damit wird aber einfach nur, wenn auch nicht immer bewusst, eine alternative geopolitische Machtkonstellation, eine - orthodox formuliert - alternative imperialistische Strategie propagiert. Da die postlinken Zerfallsprodukte des Antiimperialismus längst nicht mehr in der Lage sind, den Kapitalismus samt seiner inneren Widerspruchsentfaltung auch nur theoretisch infrage zu stellen, sondern sich stattdessen in geopolitischen Sandkastenspielen ergehen, degeneriert der Antiimperialismus zu einem systemimmanenten Alternativimperialismus. Der krisenbedingt zunehmende Expansionszwang kapitalistischer Staaten - Folge der stotternden Verwertungsbewegung des Kapitals - wird schlicht ausgeblendet, um in alternativen geopolitischen Konstellationen das Heil zu suchen (zumeist aufbauend auf Antiamerikanismus). Albrecht Müller müsste jetzt zufrieden sein, er war - objektiv betrachtet - ungeduldige Avantgarde deutschen Großmachtstrebens. Angela Merkel betreibt gemeinsam mit ihrem Juniorpartner Macron die Loslösung Deutscheuropas aus dem geopolitischen Orbit der US-amerikanischen Regierung - ohne dass dies zu einer Verringerung der Spannungen und der Gewalt eines krisenbedingt in Auflösung übergehenden Weltsystems führen wird. Vielleicht sollte man beispielsweise in Athen anfragen, welche Erfahrungen dort bislang mit dem Deutschen Europa gesammelt wurden. Fazit: Ohne klaren Antikapitalismus degeneriert der Antiimperialismus zum bloßen Alternativimperialismus.
Die extreme Rechte treibt diese Besatzungsfantasie aber noch viel weiter: Mittels der ideologischen Krücke einer bösartigen alliierten Fremdherrschaft wird wieder die Nation als positiver Bezugsrahmen aufgebaut. Einerseits als potenzieller Hort von »Volkswiderstand« gegen die »Fremdherrschaft« der Alliierten, andererseits als ein »natürliches«, kulturalistisches oder gleich völkisches Gegenprinzip zum widerspruchsvollen Ist-Zustand, in dem »Reichsbürger« angelsächsische »Flüchtlingsströme« halluzinieren, die das »deutsche Volk« »auslöschen« sollen. Wenn so die Ursachen aller möglichen Verwerfungen, Spannungen und Fehlentwicklungen der »undeutschen« alliierten »Fremdherrschaft« zugeschrieben werden können, dann erscheint die geknechtete deutsche Nation als eine natürliche, potenziell widerspruchsfreie Entität, in die Widersprüche quasi »von außen« hineingetragen werden. Wiederum kann sich hier Nationalismus in die pseudooppositionelle Pose der konformistischen Rebellion werfen, was ihn für viele in Regression versinkende Altlinke attraktiv macht. Endlich scheint man so an der Seite »des Volkes« gegen das Böse zu kämpfen.
Und zuletzt sind es auch persönliche infantile Allmachtsfantasien oder narzisstische Kränkungen, die in diesem Milieu anhand der Besatzungsfantasie ausgelebt werden können. Eigentlich sieht sich ja ein jeder rechte Forentroll als einen verhinderten Weltenlenker an. Wenn nun die Regierung und die Funktionseliten etwas anderes wollen als eine AfD-Politikerin oder der national gesinnte Hobbystratege vor der Laptop-Tastatur, dann kann es sich ja nur um Verrat handeln - schließlich weiß eine Alice Wedel am besten, was gut für Deutschland ist. Opferpose und Großmachtwahn bildeten eigentlich schon immer eine Einheit im deutschen Chauvinismus. Und solange Deutschland nicht über allem steht, kann es sich ja nur um ein geknechtetes Land handeln, dem schlicht sein Herrenmenschenrecht verweigert wird.
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