Die Beweislage spricht gegen den mexikanischen Staat
Die Familie Alvarado lässt auch acht Jahre nach der Verschleppung dreier Angehöriger nicht locker
Schwere Menschenrechtsverletzungen durch das Militär sind in Mexiko an der Tagesordnung. Seit 2006 sind bei der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos über 9000 Anzeigen gegen Heeresangehörige eingegangen. Vor acht Jahren wurden in einer kleinen Gemeinde im Bundesstaat Chihuahua drei Familienangehörige von Soldaten verschleppt. Die Gemeinde war damals militärisch besetzt, und Menschen wurden wahllos festgenommen: Es tobte der vom damaligen Präsidenten Felipe Calderón ausgerufene »Krieg gegen die Drogen«. Während Rocío und José Ángel Alvarado spurlos verschwanden, gelang es ihrer Kusine Nitza Alvarado ein paar Wochen später, anzurufen - aus einem Gefängnis in Mexiko-Stadt. Seitdem gab es kein Lebenszeichen mehr von den Alvarados.
»Wir haben sofort Anzeige erstattet und keine Möglichkeit verpasst, bei der Heeresführung und sogar beim Präsidenten vorstellig zu werden«, erzählt María de Jesús Alvarado, die Schwester der verschwundenen Nitza. Doch die Familie musste ihr Engagement teuer bezahlen. Immer wieder wurden sie bedroht und diffamiert. María de Jesús erinnert sich an ihr Gespräch mit Expräsident Calderón, der heute in Harvard lehrt, während in Den Haag eine Klage wegen Genozid gegen ihn vorliegt. »Er sagte mir: ›Das Militär beschützt diese Nation, es begeht keine Verbrechen. Ich werde nicht akzeptieren, dass jemand es in den Schmutz zieht.‹ - Wenn der Präsident selbst dies sagt, wie kann ich dann in Mexiko Gerechtigkeit erwarten?«
Die Familie Alvarado ist wie eingangs beschrieben nicht die einzige, die Verschleppungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen durch das Militär angezeigt hat. Doch der Fall Alvarado ist gut dokumentiert, die Verantwortlichen klar benannt. Im Juni 2011 ging er direkt an den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in San José. Die mexikanische Regierung reagierte mit Drohungen und Schweigeangeboten an die Alvarados. Die Angst wurde zum ständigen Begleiter der standhaften Familie, die immer wieder den Bundesstaat wechselte.
Doch im sogenannten Drogenkrieg ist das Militär überall auf der Straße. Die drei Töchter der verschwundenen Nitza erinnern sich an ihre ständige Angst. »Immer waren irgendwo Soldaten«, berichtet die heute 21-jährige Paola. »Selbst auf dem Weg zur Schule.« Und doch lassen sich die Mädchen nicht einschüchtern. Weder vom Militär noch von ihrer eigenen Trauer. »Für meine Schwestern und mich war es ein Schock, zu begreifen, dass unsere Mutter morgen nicht wieder in der Tür steht.« Ihre Tante María de Jesús brachte sie zu Therapiesitzungen, wo sie Kinder mit dem gleichen Schicksal kennenlernten und sich austauschen konnten. Und sie nahm sie mit, um vor dem UNO-Komitee für gewaltsam Verschwundene auszusagen. »Wir begriffen, dass es Jahre und Jahrzehnte dauern könnte, etwas über den Verbleib unserer Mutter zu erfahren.«
Im Mai 2013 musste die Familie schließlich mit zwölf Angehörigen ins Exil in die USA gehen. Die Drohungen wurden zu konkret. Sie wurden zunächst getrennt und in Abschiebehaft genommen. Während die Schwestern bald einen Status als »unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« bekamen, musste der Rest der Familie noch vier Jahre auf Asyl warten.
Nun steht das Urteil vom Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof an. Nach all den Jahren die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Die Klage richtet sich nicht nur gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Nitza, José Ángel und Rocío Alvarado durch das Militär, sondern auch gegen die erzwungene Flucht der Familie. »Weil wir die Verschleppung unserer Angehörigen öffentlich gemacht haben und nicht müde geworden sind, vom Staat eine Aufklärung zu verlangen, mussten wir fliehen«, bemerkt Paolas Zwillingsschwester Citali. Die Beweislage spricht gegen den mexikanischen Staat. Dieser kann nur noch technische Einwände aufführen, um den Schuldspruch hinauszuzögern.
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