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Kein Betteln mehr
Die Spitzensportverbände erhoffen sich nach dem Start eines neuen Fördersystems mehr Geld vom Bund
Stefan Knirsch hatte noch keine Zeit nachzulesen, was in den nächsten zwei Monaten wohl zu seiner Hauptbeschäftigung wird. »Wir sind noch beim Weltcup in Winterberg und damit beschäftigt, den laufenden Wettkampfbetrieb positiv zu Ende zu bringen«, sagte der Sportdirektor vom deutschen Snowboardverband am vergangenen Wochenende kurz vor dem Saisonende. Nun aber wird er sich in ein Online-Eingabeformular einloggen und die Fragen des Potenzial-Analyse-Systems (PotAS) beantworten. Und das wird eine Menge Arbeit.
Im Zuge der Leistungssportreform hatte das Bundesministerium des Innern (BMI) als Hauptgeldgeber gefordert, dass sich die Spitzensportverbände professionell aufstellen, um weiter Geld zu bekommen. Momentan fließen etwa 170 Millionen Euro pro Jahr, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) erwartet nach der Reform laut Medienberichten gut 60 Millionen Euro mehr. Die Politik verlangt dagegen eine detaillierte Bedarfsaufstellung. Wer effizient und professionell ist, soll PotAS klären. Es ist so etwas wie ein Qualitätssicherungsmodul.
Ein neuronales Computernetz soll die Sportverbände in drei Cluster einordnen: Exzellenz, Potenzial und wenig oder kein Potenzial. Um signifikante Unterschiede und Ähnlichkeiten festzustellen, sind viele Details nötig. Also werden mehr als 150 Fragen gestellt, die von den Verbänden mit Ja oder Nein beantwortet werden müssen.
16 Attribute wurden in 53 Unterattribute unterteilt. Werden alle Fragen eines Unterattributs (also 100 Prozent) glaubhaft bejaht, also mit Dokumenten belegt, ergibt das den Wert 100, bei der Hälfte wären es entsprechend 50. Innerhalb eines Attributs werden die Werte aller Unterattribute gemittelt, in diesem Fall also 75. Jedes Attribut wird dann noch je nach Wichtigkeit mit dem Faktor 1, 2 oder 3 multipliziert, bevor alle addiert werden, und der Computer in Cluster einteilt. Wem das zu kompliziert ist, dem hilft vielleicht folgende Faustregel: Wer häufiger Ja ankreuzt, hat größere Chancen auf die Erfüllung all seiner finanziellen Wünsche durch das BMI. ok
Bis zum 22. Mai haben die sieben Wintersportverbände Zeit, alles auszufüllen und ihre Antworten zu belegen. »Wir haben uns zwar vorbereitet, aber die Zeit werden wir schon brauchen. Drei Disziplinen, jeweils männlich und weiblich, mal 151 Fragen: Das ist ein ganz schön großer Berg«, sagt Stefan Knirsch. Die Snowboarder unterteilen in die Disziplinen Cross, Parallel und Freestyle.
Sein Kollege vom Bob- und Schlittenverband Deutschlands (BSD), Thomas Schwab, sieht das entspannter: »Die Disziplinen haben viel gemeinsam. Da setzt man einfach mal einen Querverweis.« Der BSD-Sportdirektor ist ein größerer PotAS-Anhänger als viele Kollegen. Er hat gemeinsam mit BMI, DOSB, Landes- und Verbandsvertretern an der Entwicklung mitgearbeitet. Nach der Überarbeitung durch die PotAS-Kommission sind nun 151 Fragen zu beantworten.
Nicht wenige sprechen von einem Bürokratiemonster. Auch Snowboard-Direktor Knirsch ist noch skeptisch: »Ich bin zwar voller Hoffnung, dass das einen positiven Effekt haben wird. Aber ich befürchte einen unglaublichen Aufwand, der große Ressourcen bindet. Und das in einer Phase, in der wir eigentlich mit Vollgas den neuen Olympiazyklus strukturieren müssen«, sagt er. Der Verband soll nun aufzeigen, »wie wir uns bisher aufgestellt haben.« Eigentlich sollte jetzt aber besser »dargestellt werden: Wie wollen wir unsere zukünftige Aufstellung haben?«
Der BSD erweckt hingegen den Eindruck in diesem Punkt schon weiter zu sein. Jedenfalls will Thomas Schwab keine Klagen über Bürokratie mehr hören. »Wir haben uns alle entschieden, das zu machen. Ich halte nichts davon, jetzt rumzujammern. Das ist ein neues Instrument, und natürlich hat es auch seine Fehler und Lücken. Die werden auch noch ziemlich groß sein am Anfang. Aber man muss den Prozess mal beginnen«, so Schwab.
Ab Juni macht sich die fünfköpfige PotAS-Kommission unter Vorsitz von Trainingswissenschaftler Urs Granacher von der Uni Potsdam an die Überprüfung aller Daten. Dann errechnet ein Computer, welche der insgesamt 37 Disziplinen in welchem der drei Cluster landet. Es könnte durchaus so kommen, dass den Biathleten Exzellenz bescheinigt wird, den Skicrossern gutes Potenzial, den Slopestylern aber gar keins, und das obwohl alle drei im Deutschen Skiverband organisiert sind.
Ums Geld geht es dabei noch gar nicht. Die Cluster sollen als Empfehlung dienen, wenn BMI, Länder, DOSB und Verbände danach in Strukturgespräche eintreten und aushandeln, wie viel Geld ausgegeben wird. Im Anschluss folgt eine dritte Stufe, die sogenannten Förderkommissionen, die dann endgültig Bescheide ausstellen soll. In den letzten beiden Phasen ist die PotAS-Kommission gar nicht mehr dabei. »PotAS liefert eine empirische Cluster-Empfehlung und Profile über Stärken und Schwächen«, erläutert Granacher. Am Ende müsse die Sportpolitik entscheiden, wie sie damit umgeht. Dass eventuell medial wichtigeren Sportarten der Geldhahn nicht zugedreht werden darf, kann als Argument also immer noch vorgebracht werden.
Zeitdruck wird nicht nur auf den Verbänden lasten, sondern auch auf der Kommission. »Am 15. Juli sind wir mit der Analyse fertig«, verspricht Granacher. Dabei müssen die fünf Kommissionsmitglieder und ein paar Mitarbeiter in knapp 50 Tagen mehr als 5000 Antworten prüfen, inklusive aller Kommentare und Beweisdokumente. »Das ist ein sehr arbeitsintensiver Prozess, dessen sind wir uns bewusst«, sagt Granacher gegenüber »nd«. Eine Wahl hat er ohnehin nicht. Bis zum Jahresende müssen die Förderbescheide in den Haushaltsplan des BMI für das Jahr 2019 einfließen. Ein späterer Zeitpunkt für die Befragung, wie es sich Stefan Knirsch vom Snowboardverband wünscht, ist im aktuellen Fördersystem also gar nicht möglich. Wenn in zwei Jahren mehr als 20 Sommersportarten evaluiert werden, wird es sogar noch enger.
Ob PotAS überhaupt etwas bringt, ist vermutlich erst im Jahr 2026 messbar. Das System soll schließlich feststellen, wie die Verbände aufgestellt sind, um Kaderathleten den Aufstieg in die Weltspitze zu ermöglichen. Dabei tritt Granacher gern auf die Euphoriebremse: »Welcher individuelle Sportler in vier oder acht Jahren eine Medaille gewinnen wird, können wir rechnerisch nicht ermitteln. Wir schauen uns die Rahmenbedingungen der Verbände an.« Wie werden sie professioneller? Wie können mehr Talente zu sportlichem Erfolg geführt werden? »Das ist die Kernaufgabe von PotAS«, sagt der Kommissionsvorsitzende. Es gehe um die Erhöhung von Wahrscheinlichkeiten, aber nie um Garantien, betont er.
Fragt man die Verbände, versprechen sie sich zunächst auch keine Medaillen. Sie wissen, dass die in der immer größer werdenden Weltspitze nicht planbar sind. Vielmehr geht es ihnen schlicht um mehr Geld. »Die Grundförderung hatte hinten und vorn nie gereicht«, sagt Thomas Schwab, der beim BSD gleichzeitig auch Vorstandsvorsitzender ist. Der Verband habe bisher vieles über die zusätzliche Projektförderung abfangen müssen, selbst die Kosten für eine Weltcupteilnahme, obwohl diese Wettbewerbe wichtig für die Qualifikation zu Großereignissen waren. »Ich erhoffe mir eine solidere Förderung für meinen Verband«, sagt Schwab. »Es ist ja bescheuert, wenn ich jedes Jahr wieder als Bittsteller dastehe, nur um unsere Weltcups fahren zu können.«
Stefan Knirsch ist etwas diplomatischer, inhaltlich aber auf gleicher Linie. Ein schlanker Verband mit viel Potenzial, das seien seine Stärken. »Wenn es dazu reicht, dass wir am Ende eine verbesserte Förderung bekommen, dann wäre das ein Erfolg«, sagt Knirsch. Beide würden das zusätzliche Geld vor allem für Trainer und besondere Trainingsmaßnahmen ausgeben. Urs Granacher berichtet aus Vorgesprächen, dass Sportarten, die erfolgreich und gut aufgebaut sind, das neue System freudig erwarten würden: »Die wollen weg vom Gießkannenprinzip«, sagt er. Da andere Verbände zwangsläufig schlechter eingruppiert werden, müssten die Verlierer mit weniger Geld rechnen.
Für manchen jetzt schon klammen Verband ist ein guter PotAS-Wert aber von vorn herein schwierig zu erreichen, weiß Knirsch, denn einige Fragen setzten eine bisherige Förderung voraus. So konnte sich nicht jeder Verband wie der der Snowboarder einen hauptamtlichen wissenschaftlichen Koordinator leisten. Aber der wird jetzt abgefragt. »Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Wenn man sagt: Ihr seid schlecht aufgestellt, bekommt aber nicht die Möglichkeit dazu, startet man damit einen Kreislauf«, sagt der Sportdirektor.
Knirsch bleibt also zwiegespalten. »Man kann viel über die Attribute streiten, aber wenn sich der deutsche Sport an Standards orientiert, bringt uns das weiter«, sagt er. Er bezweifelt noch, dass eine simple Abfrage, ob etwa ein Nachwuchskonzept existiert, Aussagen über Qualitätsunterschiede treffen kann: »Bei einem Verband ist das vielleicht ein halber Absatz, beim anderen ist es über Jahre fundiert entwickelt worden.« Zudem würde eine Frage nach Trainingsstätten fehlen. Die Snowboarder verlangen schon seit Jahren vergeblich, dass in Deutschland eine Halfpipe fürs Training gebaut wird. PotAS wird daran aber auch nichts ändern.
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