Oben bleiben!
Winfried Wolf zeigt in seinem Buch auf, welche Interessen hinter Stuttgart 21 stehen - und warum das Projekt trotzdem scheitern wird
Dass die Praxis krasser sein kann als jede Verschwörungstheorie, wird bei der Lektüre von Winfried Wolfs Buch »Abgrundtief und bodenlos« deutlich. Es ist einer Bürgerbewegung gewidmet, die sich seit über zwei Jahrzehnten gegen das Immobilien- und Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21) engagiert.
Doch Kopfbahnhöfe können auch im 21. Jahrhundert florieren, wie ein Blick nach Zürich, Frankfurt am Main, München oder Leipzig zeigt. Schließlich sind Züge an beiden Enden mit einem Führerstand ausgestattet. Doch in Stuttgart scheint Vernunft nicht zu zählen. Hier rotiert der Mercedes-Stern weithin sichtbar über dem Bahnhofsbau. Hier behaupten Befürworter des Megaprojekts gebetsmühlenartig und wider besseren Wissens, dass Kopfbahnhöfe nicht mehr zeitgemäß und Durchgangsbahnhöfe mit weniger Personal billiger seien.
Längst aber sind die Projektkosten mit Prognosen von bis zu zehn Milliarden Euro ausgeufert und haben die einst von Ex-Bahnchef Rüdiger Grube auf 4,5 Millionen Euro veranschlagte Sollbruchstelle weit hinter sich gelassen. Bewohner wie Pendler müssen sich wohl bis 2024 mit der Megatunnelbaustelle herumschlagen. Dennoch zeigen sich Betreiber und Profiteure vom Protest sowie von fundierten Argumenten unbeeindruckt.
Der Wahnsinn hat Methode. Wolf stellt in seinem faktenreichen Buch das Projekt in einen breiten Zusammenhang mit der Verkehrspolitik, mit Kapitalismuskrise und Bahnprivatisierung und mit milliardenteuren Großbaustellen. Er zeigt die Interessen der Beton-, Tunnelbau- und Immobilienlobby und das Wirken gefügiger Politakteure auf. So ist der 1994 maßgeblich von schwäbischen Akteuren wie Ex-Bahnchef Heinz Dürr und Ex-Verkehrsminister Matthias Wissmann eingefädelte Prozess der Bahnprivatisierung auch ein Immobiliengeschäft. Weil oberirdische Gleise der Entwicklung neuer Stadtteile im Wege liegen, müssen sie auf Kosten der Bürger unter die Erde. »Oben bleiben!« fordert die Protestbewegung.
Zur Untermauerung seiner Prognose, dass S21 »nicht in der geplanten Weise zu Ende gebaut werden wird«, stützt sich Wolf auf mehrere Faktoren. Er beschreibt neben der Kostenexplosion die Neigung der unterirdischen Bahnsteige und die Probleme des Tunnelbaus durch Gipskeupergestein ebenso wie die Tatsache, dass S21 die Stuttgarter Bahnhofskapazität um 30 Prozent abbauen wird. Verlierer sind der Schienenverkehr, die Bürger und das Klima.
»Die Bewegung gegen Stuttgart 21 ist nicht Geschichte, sondern weiterhin Realität«, so Wolfs Überzeugung. Er sieht in ihr das Potenzial zum Schulterschluss mit anderen emanzipatorischen Bewegungen. Weil dafür ein langer Atem gebraucht wird, gehört das Buch zur geistigen Wegzehrung der Aktivisten.
Winfried Wolf: »abgrundtief + bodenlos: Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern«, Papyrossa-Verlag, Köln, aktualisierte Auflage 2018, 319 S., 16,90 Euro
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