- Serienkiller
- «The Terror»
Unhappy Himmelfahrtskommando
In »The Terror« hat Ridley Scott die historisch verbürgte Reise einer Polarexpedition vor 173 Jahren verfilmt
»Spoilern« vom englischen to spoil, zu Deutsch ungefähr: verderben, ist die absolute Todsünde des zeitgenössischen Medienkonsums. Wer Teile eines frischen TV-Formats - vom Ende ganz zu schweigen - ausplaudert, der zerstört schließlich nicht nur die Vorfreude aufs Finale, sondern den gesamten Sehgenuss gleich mit. Bei einer derart fesselnden Serie wie »The Terror« wäre es besonders verwerflich, ihren Ausgang schon vorm Anfang preiszugeben. Andererseits: dass jene Arktis-Expedition, die Amazon Prime zum Inhalt eines aufsehenerregenden Zehnteilers macht, in der Katastrophe enden wird, wirkt nicht gespoilert. Es ist von der ersten Sekunde an unübersehbar und überhaupt: hinlänglich bekannt.
Das Transportmittel heißt nämlich »Terror« und war eines von zwei Schiffen, mit denen der englische Polarforscher Sir John Franklin Mitte des 19. Jahrhunderts in See stach, um Weltgeschichte zu schreiben. Schließlich nahm er mit mehr als 130 Mann Besatzung Kurs auf die berüchtigte Nordwest-Passage zwischen Grönland und Amerika, auf der sich die Handelsroute von Europa nach Asien um mehrere Tausend Meilen verkürzen ließe. Angeblich. Denn vorm Tauwetter des Klimawandels war der kanadisch-arktische Archipel nahezu ganzjährig von undurchdringlichem Eis blockiert. Die Entdeckungsreise galt also nicht nur als Aufbruch ins Ungewisse, sie war ein Himmelfahrtskommando. Besser: Sie wurde es.
Wer sich nur ein bisschen mit der Materie auskennt, weiß demnach schon dann, wenn gezeigt wird, wie im Herbst 1846 die »HMS Terror« mitsamt ihrem Schwesterschiffs namens »Erebus« erstmals im Schnee feststeckt: Niemand an Bord wird den warmen Pazifik lebend erreichen. Umso erstaunlicher ist es, wie die Showrunner David Kajganich und Soo Hugh den Spannungsbogen von der ersten bis zur 600. Minute so hoch halten, als sei das Ende von »The Terror« offen. Dafür sorgt eine Kamera, die der Winzigkeit des Menschen im ewigen Eis bildgewaltig, aber zurückhaltend Ausdruck verleiht. Verantwortlich ist zudem ein Soundtrack, der Naturgeräusche lieber digital verstärkt, als dauernd Geigenteppiche darüber zu weben.
Vor allem aber gibt es in der nach dem gleichnamigen Tatsachenroman von Dan Simmons gedrehten Serie ein Ensemble, das der drohenden Katastrophe frei von jeder Effekthascherei entgegenstrebt. Besonders: Jared Harris. Als Kapitän Francis Crozier bildet der versierte Shakespeare-Interpret (»The Crown«) einen grüblerischen Gegenpol zum Kommandeur des Schwesterschiffs James Fitzjames (Tobias Menzies). Dessen jugendlicher Optimismus wird vom Exkursionsleiter Franklin (Ciarán Hinds) so befeuert, dass die Entdeckungsfahrt schicksalhaft in den Untergang führt. Bis dahin sorgt Ridley Scott, der Großregisseur artifizieller Dystopien, als Produzent dafür, dass die Atmosphäre an Bord den Untergang zwar andeutet, aber nicht überdramatisiert.
Daheim als Popstars des damaligen Entdeckerhypes gefeiert, wie opulent kostümierte Rückblenden in die Londoner High Society zeigen, schrumpfen die Protagonisten mit jeder Stunde, jedem Tag, jeder Woche, jedem Jahr mehr im Panzer des Packeises zu Opfern ihrer betriebsblinden Zuversicht. Dabei ist es der liebevollen Figurenzeichnung zu verdanken, dass die Hierarchien an Bord zwar auch im drohenden Desaster unüberbrückbar sind; vom Matrosen mit Blechnapf unter Deck bis zum Porzellanservice der Offiziere darüber verwischen die Rang-Unterschiede allerdings bis zur Unkenntlichkeit, wenn wieder ein Stück Hoffnung stirbt.
Diesen Prozess zehn Folgen lang fesselnd zu gestalten, ist die hohe Kunst des Serienmachens. Verdichtet auf ein reales Ereignis, mögen die Details zwar Teil der fiktionalen Freiheit des verantwortlichen US-Senders AMC sein. Dennoch waren die Charaktere eines solchen Abenteuerstoffs nie unprätentiöser, authentischer, glaubhafter als in »The Terror«. Da wird sogar erträglich, dass praktisch keine Frauen vorkommen. Die Arktis macht ohnehin alle Menschen gleich. Gleich klein. Gleich verloren. Gleich gut geeignet für herausragendes Fernsehen.
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