• Berlin
  • Bilanz der Kältehilfe in Berlin

Obdachlosen in Berlin geht es immer schlechter

Caritas: Viele psychische Probleme und Suchterkrankungen überfordern zunehmend die Helfer

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. Die Verelendung unter Obdachlosen in Berlin nimmt zu. Auffällig viele psychische Probleme und Suchterkrankungen überforderten zunehmend die Helfer, sagte Caritas-Direktorin Ulrike Kostka am Donnerstag bei der Bilanz der Berliner Kältehilfe. Es sei gelungen, Menschen vor dem Kältetod zu bewahren – mehr aber nicht.

Allein 35 Rollstuhlfahrer suchten in diesem Winter Schutz in den Notübernachtungen, 15 mehr als im Vorjahr. Einige von ihnen sind nach Erfahrungen der Berliner Stadtmission jetzt auf den Rollstuhl angewiesen, weil Ärzte nach Erfrierungen Amputationen vornehmen mussten. »Es ist ein Skandal, dass Rollstuhlfahrer auf die Angebote der Kältehilfe zurückgreifen müssen«, ergänzte Kostka. Die notwendige pflegerische und hygienische Versorgung könnten Nothilfe-Einrichtungen nicht leisten.

Die Kältehilfe wird in Berlin traditionell von kirchlichen und sozialen Trägern organisiert und vom Land über die Bezirke sowie mit Spenden finanziert. In diesem Winter hat die Kältehilfe von November bis Ende März 1264 Schlafplätze im Warmen angeboten - so viele wie noch nie in den vergangenen 28 Jahren. Insgesamt waren die Einrichtungen zu 86 Prozent ausgelastet, in den kalten Wochen im Februar und März sogar bis zu 93 Prozent. 500 Plätze bleiben erstmals auch im April erhalten. Sonst endete die Hilfe Ende März. Beginnen soll sie im kommenden Oktober - sonst startete sie im November.

Allein bei der Berliner Stadtmission mit ihrer großen Notübernachtung in der Lehrter Straße unweit des Hauptbahnhofs suchten in diesem Winter 3500 Menschen aus 91 Nationen Schutz. Normalerweise gibt es 121 finanzierte Übernachtungsplätze. In kalten Nächten kamen mehr als 200 Menschen. Nach der Räumung der Camps im Tiergarten seien viele Obdachlose in einem permanenten Ausnahmezustand gewesen, sagte Sprecherin Ortrud Wohlwend. »Sie waren fast täglich auf der Suche nach einem neuen Platz.«

Die Zahl der Obdachlosen in Berlin wird auf 4000 bis 6000 geschätzt. Fast drei Viertel von ihnen kommen inzwischen aus dem Ausland, vor allem aus Osteuropa. Dort sind die Hilfesysteme für Menschen von der Straße oft lückenhafter. Allein in Polen seien seit November fast 50 Obdachlose erfroren, sagte Barbara Eschen, Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg. Auch deshalb fordern die Träger der Kältehilfe eine Berliner Bundesratsinitiave zur Versorgung von EU-Bürgern und soziale Mindeststandards in allen Mitgliedsstaaten.

Trotz einer besseren finanziellen Ausstattung der Hilfen für Obdachlose in Berlin sehen die Helfer weiter ein Grundproblem: Die Nothilfe im Winter sei keine Lösung, betonte Eschen. »Sie ist ein Notstopfen«. Nötig sei ganzjährige individuelle Hilfe, die Menschen möglichst von der Straße wegbringe. Ein neues Problem dabei ist, dass es in Berlin durch Zuzug und steigende Mieten kaum noch Wohnraum für die Ärmsten der Armen gibt. »Die Wohnungslosenhilfe wird wohnungslos«, ergänzte Eschen.

Caritas-Chefin Kostka nannte die Entscheidung des Landes zur Refinanzierung von Krankenwohnungen für Obdachlose eine gute Entwicklung. Es sei auch zu spüren, dass Senat und Bezirke mit Blick auf Obdachlose bereiter als früher seien, an einem Strang zu ziehen. Bisher gilt das Hilfesystem als zersplittert, Zusammenarbeit jenseits der Bezirksgrenzen ist nicht einfach.

Generell bleibe die gesundheitliche Versorgung Obdachloser trotz vieler Initiativen und Spenden aber ein Problem, sagte Kostka. »Wir können mit dem Standard nicht zufrieden sein. Wir machen hier Basismedizin wie in Lagern in Afrika.« Langfristige Therapien für Obdachlose seien kaum möglich, in Krankenhäusern würden nur absolute Notfälle behandelt. »Eine Lungenentzündung oder Epilepsie gehört nicht dazu.«

Zu spüren war in einigen Einrichtungen auch der zunehmende Konkurrenzdruck unter Obdachlosen. »Es gibt auch Gewalt. Aber angesichts der Gesamtzahlen erstaunlich wenig«, sagte Sprecherin Wohlwend.

Erst vor einer Woche gab der Senat bekannt, dass die Kältehilfe für obdachose Menschen bis Ende April dieses Jahres verlängert wird. dpa/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.