Links ist da, wo man nicht extrem rechts ist

Das völkische Gerede von dem »links-rot-grün versifften 68er-Deutschland« ist ein Mythos

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 7 Min.

Um politische Korrektheit scherte man sich damals nicht. »Wir wollen sagen, wofür wir sind«, war das Motto der Demonstration des »freien Berlin« gegen die Studentenbewegung am 21. Februar 1968. »Lasst Bauarbeiter ruhig schaffen, kein Geld für langbehaarte Affen« gehörte zu den harmloseren Parolen. Es wurde auch gefordert: »Politische Feinde ins KZ!« Der Mob attackierte mehrere Passanten, die man für Studenten hielt. »Sie schrien: Schlagt ihn tot, hängt ihn auf«, berichtete Lutz-Dieter Monde, der das Pech hatte, Rudi Dutschke ähnlich zu sehen.

Die Demonstration war eine gemeinsame Initiative aller großen Parteien, die vom DGB und den Zeitungen des Springer-Konzerns unterstützt wurde. »Man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen«, hatte die »Bild«-Zeitung zwei Wochen zuvor gemahnt, und auch Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) hatte den rechten Mob ermutigt: »Helfen Sie mit, Straftäter festzustellen.« Am 11. April, dem Tag, an dem Josef Bachmann den echten Dutschke niederschoss, erschien »Bild« mit der Schlagzeile »Rudi Dutschke - Staatsfeind Nr. 1!«.

Man versteht, dass Rechtspopulisten und Rechtsextreme sich Verhältnisse zurückwünschen, in denen NS-Nostalgie als selbstverständlicher Ausdruck deutscher Volkskultur galt - bei einer Umfrage im Jahr 1970 hatten nur 39 Prozent der Westdeutschen eine positive Meinung über Stauffenbergs Versuch, Hitler zu stürzen - und politisches Establishment, die einflussreichsten Medien und die Polizei noch Hand in Hand gegen Dissidenten zusammenarbeiteten, ohne es dabei allzu genau mit der Einhaltung der Gesetze zu nehmen.

Den Ton gab 2016 der AfD-Politiker Jörg Meuthen vor: »Wir wollen weg vom links-rot-grün-versifften 68er-Deutschland.« Diese Parole wird unermüdlich in diversen Varianten wiederholt, auch von nominell christlich-konservativen Politikern wie Alexander Dobrindt, dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Bundestag: »Auf die linke Revolution der Eliten folgt eine konservative Revolution der Bürger.« Diese angebliche Herrschaft oder Dominanz »linker Eliten« ist ein Mythos. Er sagt vor allem etwas darüber aus, wie die gar nicht so neue Rechte der Meuthens und Dobrindts die Welt sieht und welche Verhältnisse sie herbeisehnt.

Die globale Radikalisierung der sechziger Jahre, die in unterschiedlichen Formen den Westen, aber auch einige osteuropäische, lateinamerikanische und afrikanische Staaten erfasste, wird für die Debatte oft so zurechtgestutzt, dass sie in den deutschen Vorgarten passt. Recht traditionell wird oft auch in der Linken die Geschichte »großer Männer« erzählt: Der tragische Star ist Rudi Dutschke, in den Nebenrollen treten Daniel Cohn-Bendit, Rainer Langhans und einige andere auf, ausschließlich Studenten, und Frauen erscheinen allenfalls als Pin-up in Gestalt von Uschi Obermaier.

Tatsächlich wehrten sich linke Frauen sehr schnell gegen den »sozialistischen Bumszwang«, wie es der 1968 gegründete Weiberrat nannte, und andere Formen männlicher Dominanz in der Bewegung - eine Revolte innerhalb der Revolte. Der Tomatenwurf, mit dem Sigrid Rüger im September 1968 die ignorante Reaktion Krahls und anderer SDS-Granden auf die Rede Helke Sanders, die für den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen sprach, ahndete, markiert symbolisch den Beginn einer eigenständigen Frauenbewegung. Nur zwei Jahre zuvor hatte der Bundesgerichtshof geurteilt, eine Ehefrau sei zum Geschlechtsverkehr verpflichtet, zudem sei es ihr verboten, dabei »Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen«. Man kann, wenn man solchen Verhältnissen nachtrauert, hier von einem Beginn des »Gender-Wahns« sprechen.

Auch wer glaubt, es gezieme sich für den Deutschen nicht, fremdes Kulturgut anzunehmen, hat gute Gründe, sich über die 68er-Bewegung zu beklagen. Sie übernahm Aktionsformen (Teach-in, Sit-in), vor allem aber den Lebensstil der Gegenkultur aus den USA. Die Aufregung über »Negermusik« und lange Haare, die als Angriff auf die deutsche Kultur und Abkehr vom soldatischen Männlichkeitsideal galten, erscheint aus heutiger Sicht bizarr, war aber Anlass für zahlreiche Gewalttaten.

Diese »Amerikanisierung« war weniger Sache der intellektuellen Wortführer der Bewegung, die ihr oft distanziert gegenüberstanden, als von proletarischen und subproletarischen Gruppen, die sich eher an den Rolling Stones und »Easy Rider« als an Hans-Jürgen Krahl und Rudi Dutschke orientierten. Im Oktober 1968 störten Lehrlinge in Hamburg die »Freisprechungsfeier«, die Zeugnisvergabe in der Handelskammer, einen Monat später fand die erste Lehrlingsdemonstration statt. Lehrlinge und junge Arbeiter rebellierten gegen die Zumutungen der Lohnarbeit, aber auch gegen die alte Garde des Proletariats: prügelnde Meister und reaktionäre Vorarbeiter, meist Gewerkschafter und SPD-Anhänger. Und sie waren es auch in weit stärkerem Maße als die schmale und ja keineswegs durchgängig revolutionäre Schicht der Studenten, die in den siebziger Jahren neue Werte in die westdeutsche Gesellschaft einbrachten.

Viele geschichtswissenschaftliche Fragen rund um die 68er-Bewegung werden sich wohl nie zufriedenstellend klären lassen. Die damalige radikale Kritik hat wichtige gesellschaftliche Reformen angestoßen, die dann zum Teil von ehemaligen Protagonisten der Bewegung, nunmehr in Führungspositionen in Politik und Verwaltung, umgesetzt wurden. Aber war etwa das 1997 vom Bundestag beschlossene Verbot der Vergewaltigung in der Ehe noch eine Spätfolge des Tomatenwurfs? Welche Rolle spielte die 68er-Bewegung bei der Ächtung der NS-Nostalgie?

Sie hat die deutsche Gesellschaft zur Konfrontation mit der Nazivergangenheit gezwungen. Wenig Einfluss hatte sie hingegen auf das angestammte politische Milieu der NS-Nostalgiker, die CDU. Dass deren Führung seit den achtziger Jahren die Marginalisierung des »Stahlhelm-Flügels« betrieb, war die Voraussetzung für die Wiedervereinigung und die angestrebte deutsche Führungsrolle in Europa, folgte also einem machtpolitischen Kalkül. Es war aber auch eine politisch-moralische Entscheidung, mit der sich demokratische Konservative nach langem Zögern von den völkischen Nationalisten distanzierten.

Nur NS-Nostalgiker können die Anerkennung der historischen Wahrheit über Shoah und Vernichtungskrieg als Linksrutsch bezeichnen. Hier aber liegt der Schlüssel zum Verständnis dessen, was als »links-rot-grün-versifftes 68er-Deutschland« betrachtet. Die Behauptung, dass eine neue »linke Elite« die Macht übernommen hätte, ergibt im Weltbild der völkischen Rechten Sinn. Denn aus ihrer Sicht hat der derzeit dominierende liberal-konservative Flügel der CDU so viel vom tatsächlichen und vermeintlichen Erbe der 68er-Bewegung angenommen, dass er dem Lager der Feinde zugerechnet wird.

Dass Deutschland keine Räterepublik mit vergesellschafteten Produktionsmitteln ist, wie es der radikale Flügel der 68-Bewegung angestrebt hatte, ist offenkundig. Zu späteren Fortschritten führten vielmehr die Anstöße, die Menschen- und Bürgerrechte betrafen, vor allem die von Frauen. Links im Sinne umfassender gesellschaftlicher Emanzipation ist das nicht, eher kann man es als späte Verwirklichung der Versprechen der bürgerlichen Revolution betrachten. Tatsächlich aber hatte sich nicht nur in Deutschland weitgehend der Konsens durchgesetzt, dass Demokratie nicht allein eine Veranstaltung für heterosexuelle weiße Männer ist - bis dies im Zuge des Aufstiegs der völkischen Rechten wieder in Frage gestellt wurde.

Deren Idealen läuft zuwider, dass mit der damaligen Verbreitung eines neuen, »amerikanischen« Lebensstils auch die Tür für die Akzeptanz von Einwanderung aus »anderen Kulturen« geöffnet wurde. Fragen der Migration spielten in der 68-Bewegung noch keine Rolle. Dies änderte sich für die Linke erst während des »Türkenstreiks«, des von der Gewerkschaft abgelehnten Ausstands überwiegend türkischer Ford-Beschäftigter in Köln 1973 gegen die Entlassung von Kollegen, die verspätet aus dem Urlaub zurückgekehrt waren - der Protest richtete sich somit auch gegen das soldatische Arbeitsethos.

Der Kampf gegen die Lohnarbeit, oder wenigstens für die Mäßigung ihrer Zumutungen, gehört zum Erbe der 68er-Bewegung. Dass Jahrzehnte später einige ehemalige Protagonisten dieser Bewegung einer gänzlich anderen Ideologie folgend wirtschaftsliberale Reformen durchsetzten, kann schwerlich den protestierenden Lehrlingen und Haschrebellen angelastet werden. Der gesellschaftliche Aufbruch wird rückblickend oft als Beginn einer notwendigen Modernisierung des Kapitalismus im Hinblick auf Individualität und Kreativität gedeutet, dessen nützliche Idioten die aufbegehrenden Linken waren. Das Beispiel Chinas zeigt jedoch, dass ununterbrochene autoritäre Herrschaft dem Erfolg auf dem Weltmarkt nicht entgegensteht, und im westlichen Kapitalismus ist Kreativität vor allem bei der Steigerung des eigenen Marktwerts gefragt, während im Arbeitsleben nicht mehr nur Konformismus, sondern Selbstoptimierung zur Erhöhung der Produktivität gefordert wird.

Die völkische Rechte entwickelt derzeit ihren eigenen Proletkult, orientiert am Bild des selbstverständlich als weiß gedachten Stahl- oder Bergarbeiters. Erhalten oder reanimiert werden soll dadurch eine vergangene Lebensform, die des heroisch-verschwitzten Helden der Arbeit, der seinen Platz im »Volkskörper« einnehmen soll. Wie in allen anderen politischen Fragen sind ihre Vorstellungen nicht konservativ, sondern reaktionär, an einer als ideal imaginierten Vergangenheit orientiert. Möglich ist eine solche Rückkehr in diese Vergangenheit der white supremacy nur durch den Bruch mit elementaren Prinzipien der modernen bürgerlichen Demokratie. Aus dieser Sicht ist es konsequent, alle, die für diese Prinzipien einstehen, zu Feinden zu erklären.

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