Beschlagnahmen oder kaufen

Yücel Özdemir über Recep Tayyip Erdoğans Plan, die Oppositionspresse zum Schweigen zu bringen

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor fünf Monaten habe ich an dieser Stelle darüber berichtet, wie der türkische Präsident Erdoğan und seine AK-Partei unerbittlichen Druck auf die Presse ausüben, und welch große Anstrengungen sie unternehmen, um abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen. »Eine andere Presse ist möglich und notwendig«, lautete mein Appell. In der Zeit, die seitdem vergangen ist, zeigten insbesondere zwei Ereignissen, wie sich dieser Druck auf Presse und Journalisten weiter verstärkt hat.

Da ist zum einen der Verkauf der größten Mediengruppe der Türkei - der Doğan-Gruppe, zu der auch die auflagenstarke »Hürriyet« gehört - an die Erdoğan-nahe kleine Mediengruppe Demirören Holding Group. Der kleine Fisch hat diesmal den großen Fisch geschluckt - auf Wunsch des Präsidenten. Die zweite Entwicklung betrifft »Özgürlükçü Demokrasi« (»Freiheitliche Demokratie«), die Nachfolgezeitung der bereits geschlossenen »Özgür Gündem« (»Freie Tagesordnung«), einem Wahrzeichen der kurdischen Presse in der Türkei. Dort fanden am 28. März Razzien statt, der Zeitungs- und Druckereibetrieb wurde unter staatliche Zwangskontrolle gestellt und Mitarbeiter festgenommen. Die einzige kurdischsprachige Zeitung des Landes, »Welat«, wurde kurz darauf gezwungen, die Printausgabe einzustellen.

Yücel Özdemir

Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".

Diese Aktionen haben natürlich eine starke »symbolische« Bedeutung. Als Sprachrohr des einstigen kemalistischen Staates trägt die »Hürriyet« noch den Spruch »Die Türkei gehört den Türken« in ihrem Zeitungskopf. Ihre Übernahme, die einer Eroberung des Flaggschiffes der türkischen Presse gleichkommt, ist ein wichtiges Symbol für Erdoğans Kampf gegen den alten Staat. Die der Doğan-Gruppe angegliederten Zeitungen und TV-Sender lehnten zunächst das islamische Ein-Mann-Regime ab, das Erdoğan seit langem aufbauen will - und unterstützten diejenigen, die dagegen kämpften. Bei vielen wichtigen Themen, etwa bei der Aufhebung des Kopftuchverbots in öffentlichen Einrichtungen oder der Präsidentschaft Abdullah Güls, bezogen sie gegen Erdoğan und die AKP Stellung. Sie stützten sich auf die Kemalisten, die damals immer noch Einfluss auf Armee und Bürokratie hatten.

Diesen Widerstand versuchte Erdoğan zu brechen - mit Steuerstrafen und Drohungen. Journalisten, Autoren und TV-Produzenten, die er nicht haben wollte, wurden entlassen. Die Mediengruppe strebte zunehmend Versöhnung mit dem Regime an. In diesem Prozess wurde der Inhalt schrittweise mit Erdoğans Wünschen kompatibel gemacht. Als zunächst die linken, sozialistischen, kurdischen und alevitischen Medienprojekte zur Zielscheibe und beispielsweise im Oktober 2016 plötzlich zwölf Fernsehkanäle abgestellt wurden, hat die Doğan-Gruppe nicht einmal darüber berichtet.

Trotz allem waren all diese für Erdoğan geschaffenen Strukturen nicht genug. Am Ende wurde durch politischen und ökonomischen Druck erreicht, dass die Doğan-Gruppe gezwungen war, zu verkaufen. Man kann sagen: Die Doğan-Familie hat damit ihr Geld gerettet. Denn es hätte auch mit Beschlagnahmung und Zwangsverwaltung enden können.

Das AKP-Regime hat auf dem Weg zu einer Türkei, in der nur noch eine Stimme hörbar sein soll, Gelände gewonnen. Der Kampf gegen die bestehende Oppositionspresse ist, mit Blick auf die Wahlen 2019, zu einem Kernanliegen der Politik geworden. Trotzdem ist Erdoğans Wahl nicht sicher. Und offenbar glaubt das Regime, die Stimmen der Opposition kriegen zu können, indem es die verbleibende Presse aufkauft oder beschlagnahmt. Jede weitere Konfiszierung aber macht den herrschenden Autoritarismus sichtbarer und verursacht damit wiederum neue Proteste.

Die Tradition der oppositionellen Presse, aus der auch »Özgürlükçü Demokrasi« kommt, hat Repressionserfahrungen noch und nöcher. Auch diese Unterdrückung wird sie überstehen und ihren Weg weitergehen.

Aus dem Türkischen von Nelli Tügel.

Die längere türkische Textfassung können Sie hier lesen.​

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Die andere Türkei