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Kriegstagebücher und Verhütungsspiele
Das Feministische Archiv in Berlin sammelt seit 1978 Material über die Frauenbewegung
Vor 24 Jahren starb Hilde Radusch. Die antifaschistische Widerstandskämpferin, Frauenrechtlerin und lesbische Aktivistin hinterließ Hunderte Schriftstücke über ihr Leben und die politischen Kämpfe. Ihr Nachlass füllt nun rund zwanzig graue Kisten im Feministischen Archiv (ffbiz) in Berlin-Friedrichshain.
Die Dokumentarin Dagmar Nöldge schiebt die Rollregale im Kellerraum auseinander und zieht eine der Boxen heraus. Darin liegen verschiedenfarbige, lederne Hefte. In einem findet sie Reisenotizen von Radusch. »Das Kriegstagebuch von Hilde Radusch hätte ich gern gezeigt, aber das wird wahrscheinlich gerade digitalisiert«, sagt Nöldge. Etwa eine Million einzelner Schriftstücke lagern in dem kühlen, sauerstoffarmen Archiv, dazu Plakate, Fotos, Buttons und Tonträger aus fast fünf Jahrzenten Frauenbewegung.
Offiziell gründete sich das Feministische Archiv 1978. Den Anstoß gab eine Konferenz von traditionellen Frauenverbänden und autonomen Gruppen in Westberlin. Dort bildete sich eine Initiativgruppe für ein Frauenforschungs-, Bildungs- und Informationszentrum. Ihr Ziel: die Trennung zwischen universitärer Forschung und aktivistischen Frauenzentren aufheben. Der neue Treffpunkt sollte nicht bloß Archiv sein, sondern ein Ort, an dem Frauen unterschiedlichster Hintergründe sich austauschen, bilden und debattieren konnten.
In diesem Jahr feiert das feministische Projekt sein Jubiläum und zeigt in einer Publikation und Ausstellung ausgewählte Materialien. Darunter ist beispielsweise ein Brettspiel über Sexualität und Verhütung, das der Beratungsstellen-Verband »pro familia« in den 1980er Jahren als Methode der Sexualpädagogik nutzte. Oder die Mösenbuttons des Lesbischen Freundinnenkreises, die zusammen mit dem Mösenmobil - einem LKW mit einer drei Meter großen Vulva - auf dem Christopher Street Day 1998 zum Einsatz kamen. »Die Auswahl ist uns nicht leichtgefallen. Wir wollten Stücke, die sowohl die thematische Breite als auch die Verschiedenheit unserer Objekte widerspiegeln«, erzählt Nöldge.
Im Feministischen Archiv finden sich säuberlich nummeriert - und zunehmend digitalisiert - Dokumente von der »Neuen Frauenbewegung« ab den 1970er Jahren bis heute. Materialien über Kampagnen gegen den Abtreibungsparagrafen 218, das erste deutsche Frauenzentrum in Westberlin und die Gruppe »Brot und Rosen« füllen alleine mehrere Regale.
Es gibt aber noch einige Leerstellen im Bestand, meint Nöldge. Zu jüdischem und islamischen Feminismus und nicht-weißen Frauen etwa wolle man in Zukunft verstärkt sammeln.
Wurde das Archiv einst als Selbsthilfeprojekt von und für Frauen aus der Bewegung gegründet, sind es heute vor allem Studierende und WissenschafterInnen, die den Kellerraum und Lesesaal besuchen. Zwar gibt es in universitären und öffentlichen Bibliotheken mittlerweile viel Literatur über Frauenbewegungen, im feministischen Zentrum finden die BesucherInnen aber einzigartiges, meint Nöldge. Als Teil der Bewegung und über die persönlichen Netzwerke bekam das Archiv viele Hunderttausend Stücke von Privatpersonen: handgeschriebene Protokolle, Notizen wie gezeichnete Flyer von feministischen Friedensgruppen oder der Anti-AKW-Bewegung - Dinge, die lange nicht als archivierenswert galten.
Heute findet Mobilisierung in jüngeren Bewegungen vor allem über die sozialen Medien statt, auch Arbeitstreffen werden digital dokumentiert. Das stellt die Archivarbeit vor Herausforderungen. Mit einer Postkarten-Kampagne ruft das Feministische Archiv AktivistInnen dazu auf, Blog-Posts, Dateien und Unterlagen aufzuheben. »Wäre doch zu schade um das viele Herzblut«, heißt es dort. Und: »Damit die feministische Perspektive in den Geschichtsbüchern von morgen nicht zu kurz kommt.«
Nicht nur das digitale Zeitalter, auch Ortswechsel haben die Arbeit des Feministischen Archivs in den letzten Jahren verändert. 2003 zog das Projekt aus den Traditionsräumen im Westberliner Charlottenburg nach Friedrichshain. In Charlottenburg kamen fast täglich AktivistInnen zusammen, das feministische Projekt war ein etablierter Treffpunkt der Szene. Die räumliche Distanz zu den vertrauten Gruppen sorgte jedoch mit dafür, dass Dokumentation und Aktivismus auseinanderdrifteten und sich das Feministische Zentrum heute in erster Linie auf die Archivarbeit konzentriert. »Vielleicht braucht es auch diese Konzentration, um bestehen zu können«, überlegt Nöldge.
Langweilig wird dem Team deshalb nicht. Im Herbst soll mit dem Digitalen Deutschen Frauenarchiv ein Fachportal an den Start gehen, das Materialien verschiedener Frauenarchive und Bibliotheken im Internet zugänglich macht. Und mit einer Reihe von Videointerviews will das feministische Zentrum Wissen und Erfahrungen von all jenen festhalten, die ab 1968 die Frauen- und Lesbenbewegung in Berlin geprägt haben. Die Soziologiekoryphäe Ilse Lenz, Autorin von »Die neue Frauenbewegung in Deutschland«, und 17 weitere saßen bereits vor der Kamera.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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