Gipfel und dürftige Zeiten
Zum 80. Geburtstag des linken US-amerikanischen Komponisten Frederic Rzewski
Wer ist das, Rzewski? Einer unter den vielen in der US-amerikanischen Musik-, Konzert- und Theaterszene, die sich recht und schlecht durchschlugen und alles dafür taten, in den Vordergrund zu rücken, mit allen Risiken, die mitliefen? Oder einer von den unzähligen Begabungen in New York oder Chicago oder Los Angeles, die ihren Weg gingen, nicht ohne sich die Füße wund zu treten? Alles nicht, und doch von jedem etwas.
Frederic Rzewski steht für den Typus, den die Amerikaner als »Maverick« zu bezeichnen pflegen: Einzelgänger, Visionär, ehrlich und unbestechlich. Verständlich, dass der Komponist und Pianist sich der 68er Bewegung zugehörig fühlte. Mit vielen an seiner Seite ballte er die Faust, weil Rassentrennung und Vietnamkrieg nicht aufhörten. »Freiheit«, wie er sie verstand - politisch wie musikalisch -, war auf den Inseln der Avantgarde kaum zu haben. Sich umschauend, suchte er nach einer »anderen Avantgarde«.
Und Rzewski gehört zu den Urgesteinen der Geschichte »freier Musik«. In den 60er Jahren hielten revolutionär-anarchistische Ideen, wiederbelebt durch massive soziale Unruhen in Westeuropa und den USA, Einzug auch in die Musik. Sie liefen unter Stichwörtern wie »Free Music«, »Freejazz« oder »Free Improvisation«. Frei nannte man sie, weil sie spontan gemacht wurden, ohne Absprachen, ohne Partituren, ohne stoffliche oder sonstige Vorgaben. Der Hintergrund war klar. Es ging um Emanzipation im Großen, der auch durch Musik Nachdruck verliehen werden sollte.
In jener Zeit war »Freiheit« in den radikalen Kreisen der »Freien Musik-Szene« ein ethisches, politisches wie ästhetisches Konzept, konstatierte Rzewski rückblickend in einem Gespräch von 2015. »Free Music« sei nicht nur eine Mode und nicht nur eine Form der Unterhaltung gewesen. »Man hatte das Gefühl, dass sie auch in Verbindung zu den vielen politischen Bewegungen stand, die sich damals anschickten, die Welt zu verändern, die Welt von der Tyrannei überholter traditioneller Formen zu befreien.«
Frederic Rzewski, aus einer polnischen Familie stammend, wurde am 13. April 1938 in Massachusetts geboren. Musikstudien betrieb er an der Harvard und an der Princeton University. Bereits 1960 ermöglichte ihm ein Stipendium, nach Europa zu reisen. Stationen: Bonn, Salzburg, Berlin. Luigi Dallapiccola und Elliott Carter waren dort seine Kompositionslehrer. Bekannt machten ihn Uraufführungen von Klavierstücken solch renommierter Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, John Cage, Henri Pousseur, Morton Feldman oder Pierre Boulez. Im Zeichen der »Befreiung der Fantasie« musizierte er eine Zeit lang in Improvisationsgruppen und mit Jazzmusikern wie Anthony Braxton und Steve Lacy. Daneben komponierte Rzewski fleißig. Sein umfängliches Werkregister enthält Musik aller Gattungen, von der Klaviermusik, seiner Domäne, über Konzertstücke, Kammer- und Orchestermusiken bis zu Werken des Musiktheaters.
Eines für die Bühne ist »Der Triumph des Todes« nach der »Ermittlung« von Peter Weiss für singende und sprechende Akteure mit Streichquartett. Es strukturiert Protokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses derart, dass grausamste Schilderungen von KZ-Insassen in eins fallen mit Tänzen und schönen Volksliedmelodien wie »Die Gedanken sind frei«. Den Widerspruch zwischen Auschwitz und der »europäischen Kultur« wollte er bis ins Extrem entwickeln. Leni Riefenstahls Filmtitel »Triumph des Willens« deutete Rzewski dafür um. Das 1987 komponierte Stück zählt zu seinen Schlüsselwerken. Es wurde in vielen Schulen vorgeführt. Die Schüler sollten daran verstehen lernen. Auch in Los Angeles. Dort habe er viele Probleme damit gehabt: »Man behauptete, dass ich ein Antisemit sei und Revisionist und Holocaustleugner. Auch Peter Weiss wurde von allen Seiten, vom Osten wie vom Westen, von Juden attackiert, als Antisemit, weil das Wort ›Jude‹ in seinem Stück nicht ein einziges Mal vorkommt.«
Tatsächlich ist das Thema ein so empfindliches, dass es fast unmöglich ist, darüber zu reden, geschweige denn Kunst zu machen. Rzewskis Werk, das die Bühne nicht zwingend braucht, ist heute unvermindert brisant. Ein junges Ensemble des Deutschen Nationaltheaters Weimar führte »Der Triumph des Todes« zum Kunstfest der Stadt im August 2015 auf. Für den Komponisten ist das Morden, das »Die Ermittlung« aufzeigt, nicht zu Ende; die Kriege, die Opfer seien global, sagte er damals im nd-Interview. »Solange es Kapitalismus gibt, sind Dinge wie Auschwitz nicht nur möglich, sondern unvermeidbar. Ich glaube, das ist auch die Haltung von Peter Weiss.« Der amerikanische Europäer lacht gern, was sein ernsthaftes Reden unterstreicht: Hätte er gewusst, was zwei Jahre später kommt, hätte er es »Triumph des Kapitalismus« genannt.
Die Großen seiner Generation kennt Rzewski allesamt und kommuniziert mit den Lebenden wie den Toten: Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, Pierre Boulez, John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff, George Crumb, Milton Babbitt, Letzterer war einer seiner Lehrer. Frederic Rzewski tourt über Jahre weg durch Europas Westen und Osten. Brennpunkte interessierten ihn schon immer, Orte der Not, des Aufbegehrens, der Revolution. Prägend für ihn sind die 60er und 70er Jahre.
In den Jugendrevolten der späten 60er Jahre war er mittendrin. Alle seien damals Revolutionäre gewesen, davon überzeugt, »dass die Weltrevolution eminent war und schon im Gang«. Heute will er seine Initiativen von damals gar nicht so sehr betont wissen. Er schaut eher gelassen zurück auf diese Zeit.
Seine deutschen Beziehungen - das Land war noch geteilt - pflegte er ohne Berührungsängste. Der WDR Köln und andere Einrichtungen im Westen förderten ihn großzügig. Der Osten entdeckt in ihm einen politisch-musikalischen Verbündeten. Rzewski produziert Mitte der 60er Jahre, was niemand auch nur ahnt, in einem Ostberliner Rundfunkversuchsstudio ein rein elektronisches Stück und nennt es »Zoologischer Garten«, weil er täglich vom S-Bahnhof Zoologischer Garten nach Adlershof gefahren ist, wo das Studio auf einem Fernsehgelände ansässig war. Das ging ein Vierteljahr lang so. Und es entstand etwas, das Geschichte schrieb, Geschichte der elektronischen Musik in Deutschland.
Sodann ist Rzewski mehrmals Gast auf den Festivals des Politischen Liedes in Ostberlin und spielt zwei Jahre nach dem Sturz Allendes in Chile im Berliner Ensemble jenes berühmte »The People United Will Never Be Defeated«. Eine Art Initialzündung. Fortan zeigt er es Dutzende Male in allen Himmelsrichtungen diesseits und jenseits des bürgerlichen Betriebs. Und eine Garde von Pianisten tut es ihm bald nach. Mehr als 50 Pianisten sollen es heute im Repertoire haben. Der Russe Igor Levit hat »The People United«, voller Überzeugung von der Größe des Werkes, mehrmals im Konzerthaus Berlin gespielt. Levit stammt aus Gorki, er begab sich frühzeitig nach Hannover und studierte an der dortigen Musikhochschule Klavier. Rzewski ist mit dem jungen russischen Starpianisten befreundet.
»The People United« entstand 1975 nach dem Kampflied von Sergio Ortega »El pueblo unido, jamás será vencido!« (»Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden!«). Seinerzeit hatte Rzewski die chilenische Gruppe Inti-Illimani mit dem Lied gehört, dessen Kopfmelodie ihm wie ein Thema von Paganini erschien. Das einstündige Klavierwerk besteht aus sechs mal sechs Variationen, angefügter Improvisation und Reprise des Themas. Der 31-jährige Levit hat »The People United«, bot sich die Gelegenheit, immer wieder gespielt. In Berlin, in Deutschland, in Europa-Ost wie -West. Auch in Brüssel, wo Rzewski seit Langem zu Hause ist und selbstverständlich mit vor Ort war.
Des Russen Wiedergaben waren so erfolgreich, dass Sony Music eine CD-Box mit ihm produzierte, die, vom Pianisten selbst ausgesucht, drei Variationswerke enthält: Bachs »Goldberg-Variationen«, Beethovens »Diabelli-Variationen« und Rzewskis Variationswerk. Levit: »Der Hintergrund ist meine brennende Überzeugung, dass es sich hier um die drei wichtigsten Variationswerke in der Klavierliteratur handelt.«
An diesem Freitagabend wird Igor Levit dem Publikum in der britischen Hauptstadt London ein neues Klavierwerk des Meisters vorstellen. Extra zu dessen 80. Geburtstag. Rzewski wird anwesend sein. Auf seinen russischen Freund schrieb er dieser Tage: »Zwischen einem alten Mann und einem jungen gibt es wesentliche Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten. Der Alte hat paradoxerweise viel Zeit, der Junge keine. Wie im Gedicht von Archilochos, kennt der junge Fuchs viele kleine Dinge, der alte Igel nur ein großes. Schließlich hat der Alte viel Vergangenheit hinter sich, der Junge viel Zukunft vor sich. Ihr Treffpunkt ist die Gegenwart der Musik. Diese Gegenwart gehört nicht zu dieser oder jener Zeit, sondern dauert einfach. Sicher, es gibt in der Kunst Gipfel - wie auch dürftige Zeiten, die niemand erklären kann. Heute vielleicht haben wir beides.«
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