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«Es ist buchstäblich zum Heulen»
Igor Maximytschew über die deutsch-russischen Beziehungen:
Willst du ein gutes Ergebnis haben, mache die Arbeit selbst.« Dieses russische Sprichwort zitiert Igor Maximytschew, um das Eingreifen Russlands im Syrien-Krieg zu verteidigen. Ungeachtet westlicher Lamenti und aberwitzigen Luftschlags ist unbestreitbar, dass ohne russische Unterstützung das verteufelte »Assad-Regime« die wahrhaft teuflischen Islamisten nicht vertrieben hätte. Europa sollte dankbar sein, nicht nur weil derart Fluchtursachen dezimiert werden, sondern vor allem die Gefahr islamistischer Terrorakte in unseren Metropolen gedämmt wird.
Russland selbst hat seit geraumer Zeit ein Terrorismusproblem (Anschläge in Moskau und St. Petersburg) und kam deshalb der Bitte des syrischen Präsidenten nach, die infolge des Bürgerkrieges ins Land strömenden diversen islamistischen Gruppierungen zu bekämpfen. Das Phänomen Russisch sprechender Kinder in Irak und Syrien bezeugt, dass nicht wenige Terrorsympathisanten aus Russland, Männer wie Frauen, vom IS angezogen werden. Im August 2017 flog Moskau erste Waisenkinder zu Verwandten nach Grosny in Tschetschenien aus.
»Der Alptraum des aggressiven terroristischen Religionsstaates ist wenigstens für die nächste Zukunft abgewendet«, urteilt Maximytschew hinsichtlich Syrien. Dem Diplomaten a. D. ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass neben dem militärischen Erfolg Russland auch den politischen Prozess des Ausgleichs innerhalb der syrischen Gesellschaft (»mit Ausnahme von Terroristen und ihren Verbündeten«) eingeleitet habe, unterschiedliche Kräfte zu Gesprächen an den Verhandlungstisch (Astana, Kasachstan) oder zumindest zu einer Skype-Konferenz zusammenbrachte. Auch verweist der Autor explizit auf die enorme humanitäre Hilfe Moskaus (Lebensmittel, Medikamente, Bekleidung, ärztliche Betreuung).
»Die bevorstehende Niederlage der Terroristen wird keineswegs bedeuten, dass die russische Mission in Syrien beendet sei«, betont Maximy-tschew. »Der Retter ist für den Geretteten verantwortlich«, konstatiert er und versichert: »Russland ist noch nie seiner Verantwortung ausgewichen.« Er wünscht sich »ein wenig mehr Verständnis aus Deutschland« für den Kampf Russlands gegen den internationalen Terrorismus. Dies ist auch der Grund, warum er dieses Buch schrieb, obwohl er im Zweifel war, »ob sich ein weiterer Versuch lohnen würde, das heutige Russland für die Deutschen begreiflicher zu machen«. Jeder, der Maximytschew kennt, weiß, wie sehr seine Lippen und sein Federkiel schon zerfasert sind ob der gebetsmühlenartigen Bitten und Beschwörungen, sich - wenn schon nicht als Freunde - wenigstens als Partner zu akzeptieren und zu respektieren. Dem Gesandten, dem maßgeblich mit zu danken ist, dass im November 1989 keine Panzer sowjetische Kasernen in der DDR verließen, um die Mauer wieder zu schließen, ist das deutsch-russische Verhältnis eine Herzensangelegenheit. »Um der friedlichen Ordnung in Europa und in der Welt willen müssen Deutschland und Russland am gleichen Strang der gemeinnützigen Kooperation ziehen.«
Maximytschew, der bereits 1944 als Viertklässler Deutsch lernte (Pflichtfach an sowjetischen Schulen sogar mitten im Großen Vaterländischen Krieg), verweist auf die Waffenbrüderschaft während der antinapoleonischen Befreiungskriege, Bismarcks Bündnisstrategie und die Neue Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr. Er bedauert in Deutschland wieder aufgeflammte Russophobie, die den Blick vernebelt: »Die Situation scheint viel schlimmer zu sein als zu den Zeiten des Kalten Krieges. Damals hatte der Westen noch Achtung vor der Sowjetunion und eine gemeinsame Lösung der Weltprobleme lag, wenigstens teilweise, im Bereich des Möglichen. Heute zieht man es vor, mit Russland mittels Sanktionen zu kommunizieren und alles, was es sagt, sogleich als hinterlistige Finte zu verschreien. Es ist buchstäblich zum Heulen.«
Die Wurzeln der west-östlichen Entfremdung sieht er im Jahr 1999. Das NATO-Bombardement auf Jugoslawien trotz russischer Proteste nennt er eine »Zeitenwende«. Er erinnert an die abrupte Kehrtwendung der Aeroflot-Maschine mit Jewgeni Primakow an Bord vor der Küste der USA, als die NATO-Aggression begann; kurzerhand cancelte der damalige russische Premier den vereinbarten offiziellen Besuch in Washington. Der Westen war überrascht, perplex. Denn: »Bis dahin war man in den westlichen Hauptstädten der fröhlichen Überzeugung, Russland sei auf dem besten Wege, das Schicksal der Sowjetunion zu wiederholen. Der Abschlusstag des Abzugs der Westgruppen der russischen Truppen von deutschem Boden 1994 wurde insbesondere von der deutschen Regierung als Beginn der Begräbniszeremonie für den Hauptnachfolgestaat der Sowjetunion empfunden.«
Die Jelzin-Ära sei als »böse Zeit« im Gedächtnis der Russen gespeichert: Ruin der Wirtschaft, Verelendung der Bevölkerung, Zügellosigkeit der Oligarchen, Wüten der Kriminalität, Entfesselung von Politiker- und Beamtenwillkür und offene ausländische Einmischung in die Innen- und Außenpolitik. Westliche Demokratien applaudierten, als Jelzin 1993 das russische Parlament beschießen ließ. Man imaginiere solch Spektakel heute vorm »Reichstag«! Es ist den Russen jedenfalls nicht zu verdenken, wenn sie aus den 1990er Erfahrungen schlussfolgerten, der Westen fühle sich umso wohler, je schlechter es ihnen geht, desto mehr Russland schwächelt und sich unterwürfig zeigt. Was ist das für eine Weltgemeinschaft?!
Dann kam Wladimir Putin. »Das Land brauchte dringend einen Chef, der imstande war, einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden«, schreibt Maximytschew. Der Patriot verschweigt in seiner Hymne auf Putin nicht, dass Russland heute noch »einen Haufen von Problemen« hat, wozu er vor allem die Abhängigkeit des Staatshaushaltes von den Einnahmen aus Erdöl- und Erdgasexporten zählt. Aus den 1990er Jahren tradiert sei »die besonders schmerzhafte Unsitte der Verzögerung von Lohnauszahlungen in den Privatbetrieben, wenn dort finanzielle Schwierigkeiten aufkommen«. Trotzdem sei in Putins siebzehn Jahren Großes geleistet worden, vor allem die globale Rolle Russlands wiederhergestellt. »Russen betrachten sich heute nicht als eine entlegene Provinz Europas, sondern als Zentral- beziehungsweise Nordmacht Eurasiens.« Die »russische Wiedergeburt« verdanke sich Fehlentscheidungen der EU, die stets tut, was Hardliner in Washington verlangen und sich damit ins eigene Fleisch schneidet und Chancen verspielte, etwa die, Russland als eine Brücke nach Asien zu nutzen.
Die jüngsten propagandistischen und materiellen Attacken des Westens gegen Russland (Sanktionen, Luftschlag gegen Syrien, die Skripal- und Hacker-Affären) vermitteln allen an einer Verbesserung der Beziehung interessierten Menschen null Hoffnung. »Und die Zeit verrinnt, die unwiederbringliche Zeit«, stöhnt Maximytschew. Um sodann trotzig zu bekennen: »Das Gerede von einer Bestrafung Russlands beeindruckt die Russen nicht mehr.«
Igor Maximytschew: Russland begreifen. Wie Moskau über Deutschland wirklich denkt und woher neues Vertrauen kommen kann. Mit Marc Kayser. Edition Berolina, 190 S., br., 14,99 €.
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