Nichts entgeht seinen biergelben Augen
Die Agentur für Anerkennung gastiert mit »Hotel Europa. Wie hoch kann man fallen?« im Theater unterm Dach
Es brennt schon, das Hotel. Angezündet in der ersten Szene. Tumult auf Straßen und Gassen. Es ist vorbei mit dem bekannten Haus, seinem Mythos, der mit den verkommenen Zuständen zerfällt. Von unten aus sieht die revoltierende Menge Ignatz, den alten Liftboy, in der Dachluke stehen. Doch dort bahnt sich schon eine Stichflamme ihren Weg. Es folgt, wie es soweit kam.
Nach Joseph Roths 1924 geschriebenen Roman »Hotel Savoy« erarbeitete sich die Berliner Künstlergruppe Agentur für Anerkennung ihre Inszenierung »Hotel Europa«. Eine Unternehmung dieses Titels gab es bereits 2015 in Wien. Dort erging man sich in Endzeitstimmung. Das aktuelle, von Reto Kamberger inszenierte und eine Stunde dauernde Stück im Theater unterm Dach, das auch im Rahmen des Performing Arts Festival gezeigt werden wird, geht einen anderen Weg.
Kamberger schuf eine Collage. Roths Geschichte, seine Worte reiben sich darin an heutigen Sichten. Die sind zwar nicht unbedingt immer optimistisch und durchaus voller Fragen und Zweifel. Aber gefeiert wird hier nicht die fatalistische Hingabe. Da ist noch Leben. Der Ruf nach Aufbegehren, das dem tatenlosen Gaffen entgegensteht. Anders ließe sich das mit Anna Dieterich, Darinka Ezeta und Ana Hauck wohl gar nicht inszenieren. Wie es für die Gruppe typisch ist, bauen die Schauspielerinnen eigene Erfahrungen, Gefühl für ihren Standort und ihres Weges in und durch Europa mit ein. Sie sind bei jeder Ernsthaftigkeit in allen Gruppenproduktionen dabei voller Mut und Lebenslust. Der Schalk sitzt ihnen im Nacken. Das äußert sich auch musikalisch.
Im Rückblick der Geschichte findet Roths Ich-Erzähler Gabriel bei seiner Rückkehr aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft eine Bleibe in dem Hotel und bezieht eines der billigsten Zimmer. 703. Die Null in der Nummer ermuntert ihn zu dem Bild, das sei eine Dame zwischen zwei Herren. Links der ältere, rechts der jüngere. Noch weiß Gabriel nicht, dass er Ähnliches erleben muss. Er erkundet das Haus, spürt körperlich den zwischen den Bewohnern klaffenden Unterschied. Unten leben die Betuchten, ohne Stütze zu sein. Oben die Armen. Und die Frage drängt sich Gabriel auf: Wie hoch kann man fallen? Unterwürfigkeit kommt ins Spiel, als ein reicher Amerikaner als vermeintliche Rettung auftaucht und ihn als Sekretär einstellt. Weitere Bilder entstehen, Vergleiche bauen sich auf zur Situation im heutigen Europa.
Liftboy Ignatz fährt durch alle Etagen. Wie eine auf Beute harrende Spinne lauert er in seinem Fahrstuhl. Nichts entgeht seinen biergelben Augen. Mitunter finden sich an den Zimmertüren Zettel des Hoteldirektors Kaleguropulos mit Hinweisen und Aufforderungen. Twitter gab es ja noch nicht. Geradezu atemlos werden dessen angekündigte Besuche erwartet. Erst am Ende wird das Geheimnis um ihn gelüftet. Nichts war, wie es schien.
Ein eigens dafür erdachter Rhythmus gibt der Inszenierung besonderen Charakter. Die Geräusche - mit allerhand Alltagsgerätschaften fürs Alltagsgeräusch im und um das Hotel hervorgebracht - sind der Pulsschlag des Abends. Sie umgeben alles Scheitern und Hoffen, Mythen, Parabeln, Orakel und Gebete. Wünsche an Europa gibt es ebenfalls. Das Publikum konnte sie vor Beginn des Theaterabends beim Einchecken abgeben. Da kamen welche nach Offenheit, weniger Lügen, mehr Wertschätzung und mehr. Es lohnt, solches zu erhoffen. Doch wer soll sich darum kümmern? Wer es müsste, kokelt nicht.
Von nichts kommt nichts. Der Dramatiker Heiner Müller wird zitiert: »Der Aufstand beginnt als Spaziergang.« Also geht mal spazieren, heißt es. Und wo wurde eigentlich schon mal so gefragt wie in diesem Dialog: »Wann ist der Tag der europäischen Einheit?« - »Keine Ahnung.« Die Inszenierung kehrt am Ende zurück zu den Flammen. Der Kreis schließt sich.
Nächste Vorstellungen: 20. April, 26. und 27. Mai im Theater unterm Dach, Danziger Straße 101, Prenzlauer Berg
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