- Kultur
- Antisemitismus in Russland
Vom Glück, zu überleben
Irina Scherbakowa hat die Geschichte ihrer Familie aufgeschrieben
Nur ein Wunder konnte uns retten», lautet der Titel des vor 18 Jahren im Campus-Verlag veröffentlichten Buches, für das Irina Scherbakowa einige Geschichten über Leben und Überleben von Sowjetbürgern und Politemigranten unter Stalins Terror ausgewählt hatte. Ein Kapitel darin war ihrer russisch-jüdischen Familie sowie ihrer Spurensuche gewidmet, die 1977 begann. Seitdem hatte sie mehrere hundert Lebensgeschichten zusammengetragen. Die ersten Tonbandaufzeichnungen entstanden in der Amtszeit von Leonid Breschnew, als Stalin eine Aufwertung erfuhr und der Große Terror zu den Tabuthemen gehörte.
Nicht nur Irina Scherbakowa hatte Interesse am Sammeln von Informationen. Die in der UdSSR gegeneinander operierenden hochkonspirativen Welten, für die die Abkürzungen Samisdat und KGB stehen, trafen im Milieu, in dem die studierte Germanistin lebte und arbeitete, beständig aufeinander. Während die einen das Gedächtnis auf ihrer Seite hatten, verwalteten die anderen die Archive. Sehr schnell wurde Irina Scherbakowa klar, dass sie ihr Ziel, die Schrecken des Stalinismus aufzuarbeiten, nicht allein bewältigen konnte.
Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Menschenrechtsorganisation «Memorial» 1989. Diese griff zehn Jahre später ihren Vorschlag auf, einen republikweiten Wettbewerb «Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert» zu starten. Tausende Schüler und Schülerinnen der Oberstufe haben sich daran beteiligt. Innerhalb von acht Jahren sind über 21 000 Berichte bei «Memorial» eingegangen und mehrere Bände mit ausgewählten Einsendungen erschienen. Während der Arbeit an diesem Projekt wandte sich Irina Scherbakowa wieder der eigenen, bisher nur in groben Zügen skizzierten Familiengeschichte zu. Die nunmehr vorliegende «Familiensaga» fällt, verglichen mit den in der Campus-Ausgabe enthaltenen Schilderungen, weitaus kritischer und nüchterner aus.
Die Arbeit der Historikerin findet, ebenso wie der von ihr initiierte Wettbewerb, in Russland nicht nur Zuspruch. Da sie eine russisch-jüdische Familiengeschichte erzählt - die Großeltern stammen aus der Ukraine -, wird Irina Scherbakowa auf russischen Internetseiten als «zionistische Aktivistin der 5. Kolonne» und «im Auftrag ausländischer Mächte tätige Agentin» verleumdet. Ihr und anderen Mitgliedern der Gesellschaft «Memorial» werden Verfälschung der «vaterländischen Geschichte» und «Schwarzmalerei» der Vergangenheit vorgeworfen. Diese Kampagne ist ihrer Meinung nach ein Ausdruck des in Russland, in der UdSSR und in der Russischen Föderation latenten Antisemitismus.
Immer wieder kommt sie darauf zu sprechen, wie ihre Urgroßeltern, Großeltern und Eltern, deren Lebensplanung Ausreise ausschloss, im Alltag sowie im Berufsleben Hass und Diskriminierung erlebt haben. Großvater Jakow Roskin arbeitete seit 1924 im Kominternapparat, nach Georgi Dimitroffs Wahl zum Generalsekretär der Komintern, als Referent an dessen Seite. Der im Krieg an Armen und Händen schwer verwundete Vater studierte nach seiner Demobilisierung Literaturwissenschaft an der Moskauer Universität und bekam eine Stelle in der Redaktion der «Literaturnaja Gaseta», später wechselte er in die Redaktion der Literaturzeitschrift «Nowy mir».
In der elterlichen Wohnung am Arbat waren unter anderem Bulat Okudschawa, Viktor Nekrassow, Daniil Granin, Lew Kopelew und Wasil Bykow zu Gast. Manuskripte mit Texten von Warlam Schalamow, Alexander Solschenizyn oder Jewgenija Ginsburg bewahrte der Vater zu Hause auf. Irina durfte diese Texte, von denen viele in Abschriften unter der Hand verbreitet wurden, lesen. Während und nach dem Studium - das «Tauwetter» ging zu Ende - arbeitete sie als Dolmetscherin für den Schriftstellerverband, begleitete u. a. Jurij Brezan, Franz Fühmann und Christa Wolf auf deren Reisen durchs Land.
Bei den Eltern wuchs in dieser Zeit Hoffnungslosigkeit und Angst. «Mich und meine Freunde», schreibt sie rückblickend, «rettete unsere Jugend und das Fehlen der schweren Last der Erinnerung an die erlebten Jahre des Terrors und des Krieges». Es sind insbesondere die Reflexionen über die Veränderungen in der russischen Gesellschaft, die zu den bedrückenden, aufschlussreichen Stellen im Buch gehören. Wer verstehen will, was heute in Russland auf dem Gebiet der Geschichtspolitik vor sich geht, ist gut beraten, zu diesem Buch zu greifen.
Ihre Töchter haben sich unter dem Eindruck der Zeit der Wirren, wie die Jahre zwischen Gorbatschows Perestroika und Putins Amtsantritt bezeichnet werden, für einen anderen Lebensentwurf entschieden. «Nach und nach hat sich unsere ganze Familie in aller Welt verstreut», bedauert Irina Scherbakowa. Die Kinder ihrer Schwester leben in Israel, ihre ältere Tochter in New York. Auf die Frage, ob die Enkel einen Neuanfang im Land ihrer Vorfahren wagen werden, weiß sie keine Antwort.
Irina Scherbakowa: Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte. A. d. Russ. v. Susanne Scholl. Droemer, 415 S., geb.,22,99 €.
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