Jena holt Marx aus der Kiste

Die Thüringer Universitätsstadt tat sich nach 1990 sehr schwer mit ihrem Doktoranden - jetzt ändert sich das

  • Doris Weilandt, Jena
  • Lesedauer: 4 Min.

Im thüringischen Jena wird rund um den Marx-Geburtstag am 5. Mai über Ideen für eine gerechtere Gesellschaft gestritten - so bei einem Symposium. Es ist das erste Mal nach 1990, dass sich Stadt und Universität intensiv mit ihrem wohl berühmtesten Promovenden auseinandersetzen - ohne sich von vornherein Dogmen aufzuerlegen. Karl Marx hatte 1841 in Jena seine Schrift »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« eingereicht, um »in absentia«, in Abwesenheit, promoviert zu werden. Dieses Verfahren war damals nicht unüblich. Binnen kurzer Zeit reichten sich die Fakultätsmitglieder die Schrift weiter. »Ich präsentiere Ihnen hierdurch in Herrn Karl Heinrich Marx aus Trier einen sehr würdigen Candidaten«, schrieb Dekan Friedrich Bachmann. »Das Specimen (Doktorarbeit) zeugt von eben so viel Geist und Scharfsinn als Belesenheit (…)«. Die Arbeit wurde mit »vorzüglich würdig« bewertet.

Vor diesem Hintergrund erhielt die Friedrich-Schiller-Universität (FSU) im Marx-Jahr 1953 eine Marx-Büste des Künstlers Will Lammert, die zunächst im Foyer, fünf Jahre später in der Goetheallee aufgestellt wurde. In der im Volksmund als »Via Triumphalis« bezeichneten Ahnengalerie berühmter Gelehrter an der Allee stand der Kopf bis zu seiner Demontage 1992. Seither hat er das universitäre Depot nicht verlassen. Ein Versuch des Jenaer Stadtrates, der 2017 mit Zweidrittelmehrheit für die Wiederaufstellung votiert hatte, scheiterte in Verhandlungen mit der Besitzerin - der Universität - kläglich.

Anlässlich des bevorstehenden Marx-Symposiums - veranstaltet vom Stadtbetrieb Jena Kultur und der Uni - wird der Künstler Sebastian Jung der Bronze-Büste temporär zur Aufstellung verhelfen. Und zwar im Einkaufscenter »Neue Mitte« im Jenaer Zentrum, einer Welt der überflüssigen Dinge. Auf die Frage, wie es Jung gelungen ist, Marx aus dem Depot zu befreien, antwortet er lapidar: »Ich kann zaubern.« Über Liebesbriefe von Jenny Marx an Karl hat er sich dem Thema genähert, ganz privat und poetisch. Daraus entstand die Idee, die Shopping mall mit Marx zu konfrontieren - und umgekehrt. Welche Wirkung entfaltet ein Denkmal, das für eine gerechtere Welt steht, an diesem Ort? Ist Marx noch Philosoph oder beginnt im Konsumtempel eine Apotheose? Für Jung sind solche Zentren spannende Orte. Er verbringt dort viel Zeit und beobachtet Menschen, die sich darin bewegen. Dabei ist eine 36-seitige Zeichenserie entstanden, die Teil der Kunstaktion »La Dolce Vita« wird.

Diese Serie ist auch in einer Ausstellung in der Kunstsammlung Jena anlässlich des Marx-Geburtstages zu sehen. Unter dem Titel »Dystopia« werden Arbeiten verschiedener Künstler vorgestellt, die sich kritisch mit den ökonomischen und sozialen Hintergründen unserer Zeit aus- einandersetzen. Angesichts zunehmender Unterschiede zwischen arm und reich, der Endlichkeit der Ressourcen, Wohnungsnotstand und grassierender Umweltverschmutzung hat die Marxsche Analyse des Kapitalismus nichts von ihrer Aktualität verloren. Der deutsch-türkische Künstler Nasan Tur beschäftigt sich in der Ausstellung mit der Ausbeutung durch Arbeit und Massenproduktion. Für sein komplexes Werk »Kapital« hat ein Computer Hunderte internationale Schreibweisen dieses Begriffs ermittelt, die Nasan Tur mit Tusche auf handgeschöpftes Papier geschrieben hat. Zu dieser Rauminstallation hat er eine Soundcollage geschaffen. Bänker unterschiedlicher Couleur sprechen dieses Wort, das in einem Video sehr anschaulich zum politischen Symbol der Macht wird.

Zu sehen sind auch Fotografien aus der Serie »The Summits« von Julian Röder. In Genua und Heiligendamm hat er bei G8-Gipfeln den Schutz für die Herrschenden beobachtet und sich mit dem Zusammenhang von Gewalt und Ökonomie auseinander gesetzt.

Während des viertätigen Symposiums finden Diskussionsforen zu ideengeschichtlichen Themen, philosophische Tischgespräche, Vorträge und Lesungen statt. Einen Höhepunkt bildet das Podium, zu dem die DFG-Forschergruppe »Postwachstumsgesellschaften« einlädt. Zur »Gesellschaftsanalyse nach Marx« diskutieren Hartmut Rosa, Klaus Dörre und Stephan Lessenich. Danach wollen politische Aktivisten aus europäischen Ländern und Brasilien gemeinsam mit ihrem Publikum nach alternativen Gesellschaftsmodellen suchen. »200 Jahre Marx - und kein Ende in Sicht« lautet die Überschrift im Programmheft der Stadt Jena. Der Anfang einer Neubetrachtung.

Symposium anlässlich des 200. Geburtstages von Karl Marx vom 3. bis 6. Mai an verschiedenen Orten in Jena. Weitere Informationen unter: www.marx-jena.de

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