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Feindbild Frau
Der mutmaßliche Attentäter von Toronto gehörte der Incel-Bewegung an, einer Gruppe von Frauenhassern
Vor einer Woche fuhr ein Mann im kanadischen Toronto mit einem Lieferwagen über den Bürgersteig der Yonge Street in eine Menschenmenge und ermordete zehn Menschen, 14 weitere wurden verletzt. Dieses Attentat auf unschuldige Passanten war nicht das Werk eines Islamisten, sondern offenbar eines Mannes, der sich mit der sogenannten Incel-Bewegung identifiziert. Incel steht für »involuntarily celibate« - eine Gruppe von Männern, die nach eigenen Angaben »unfreiwillig zölibatär« leben, weil sie von Frauen sexuell verschmäht würden. Bislang hatte kaum jemand diese obskure im Internet organisierte soziale Gemeinschaft wütender Männer wahrgenommen.
Auch die Wahl des Anschlagortes war ungewöhnlich und passt nicht ins Muster eines Attentäters, dessen Ziel es ist, an einem belebten Ort so viele Menschen wie möglich umzubringen. Der 25-jährige mutmaßliche Angreifer Alek M. wählte einen Stadtbezirk abseits des Zentrums aus, in dem neben Englisch ein Sprachengemisch aus Koreanisch, Chinesisch, Farsi und Russisch zu hören ist. Die Opfer sind Studierende, SozialarbeiterInnen, eine 80-Jährige, Touristen - die Mehrheit Frauen. Der Mann war im Zickzackkurs gefahren, um so viele Frauen wie möglich mit seinem Lieferwagen mitzureißen.
Offenbar war es das Ziel des mutmaßlichen Attentäters, eine »Mission« zu erfüllen: Die »Welt von Chads und Stacys« zu befreien - er hatte kurz vor der Tat eine Facebook-Nachricht mit der Ankündigung einer »Rebellion« veröffentlicht. Chads und Stacys - so bezeichnen die Anhänger der Incel-Internetgruppe »gut aussehende« Alpha-Männer und Frauen, die »normale« sexuelle Beziehungen zum anderen Geschlecht pflegen. Umstände, die den sogenannten Incel in ihrem Selbstverständnis nicht vergönnt seien.
In Kanada hat der Anschlag zu einer Mischung aus Trauer, Unverständnis und Reflexion des fragilen Zustandes der Gesellschaft geführt. Mit Blick auf den nach jetzigem Wissensstand von Frauenhass getriebenen Anschlag sprechen einige Politiker und Beamte durchaus von einer Form des Terrorismus. Im Visier von Fahndern waren Gruppen wie Incel bislang jedoch nicht. Im Land wird derzeit die schwierige Debatte geführt, wie sich solche Attentate und Motive klassifizieren lassen und wie ihnen begegnet werden kann. Hassgruppen aus dem Internet soll so wenig Raum und Aufmerksamkeit wie möglich eingeräumt werden. Meist erhalten solche militante Gruppierungen nach öffentlichen Debatten eher sogar noch Zuwachs. Eine Gender-Debatte neu zu führen, das hatte im Jahr 2018 bislang niemand für notwendig gehalten. Vor allem nicht die breite Schicht der gebildeten und arbeitenden Frauen in Kanada, die heute höchste Ämter in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft bekleiden.
Soziologin Judy Taylor von der University of Toronto sieht Gruppen wie Incel, wo sich Tausende in Internet-Foren austauschen, als gefährlich an. »Sie benutzen Militärjargon, sprechen von Führern und Rebellion und bewundern andere Männer, die Morde begingen, weil sie sich einsam fühlten.« Die Universitätsprofessorin erkennt darin eine nicht unbeträchtliche soziale Gruppe von jungen Männern wieder, die in das Muster des Attentäters vom Montag passen: »Sie sind entwurzelt, verbringen zu wenig Zeit mit anderen Menschen, zu viel Zeit am Computer und sind im Beruf und in der eigenen Bildung erfolglos.« Solche Männer, die »vergiftende Rhetorik« und Gewaltfantasien verbreiten, müssten ihrem Eindruck nach besser beobachtet werden.
Kanada, das sich als aufgeklärtes, emanzipiertes Land versteht, sieht sich plötzlich mit einem aggressiven Misogynismus - sogenannter Frauenfeindlichkeit - konfrontiert. Viele Frauen sprechen derzeit mit Erstaunen, Abscheu und Trauer über die Geschehnisse und wünschen sich, dass auch mehr Männer das Thema diskutierten. »Ich habe bis vor einer Woche das Thema Emanzipation niemals in Frage stellen müssen«, sagt die Korrespondentin des öffentlichen Senders CBC, Diana Swain. Plötzlich stehe sie bei der Beschäftigung mit dem Thema einer vernetzten Gruppe von sexistischen und rassistischen Männern gegenüber, die eine »toxic mess« - ein Chaos aus Gift und Hass - versprühen. »Viele Frauen sind total geschockt, weil sie erfahren, dass sie so gehasst werden«, sagt Diana Swain. Mitunter seien Argumente zu hören wie: Der Feminismus oder gar die metoo-Bewegung seien Schuld an Erscheinungen wie Incel. Auch die Forderung nach einer Legalisierung von Sexarbeit wird in den vergangenen Tagen laut, um vermeintlich verschmähten Männern mehr Gelegenheit für Sex zu bieten. In Kanada gilt ein sogenanntes »Sexkaufverbot«.
In Toronto kommen seit dem Anschlag auf der Yonge Street jeden Tag Menschen zusammen, die sich dem Hass entgegenstellen. Überall kleben Plakate und werden Schilder mit Sprüchen der Zuneigung aufgestellt. Für die Hinterbliebenen der Anschlagsopfer wurden online unter dem Motto torontostrong in ganz Kanada mittlerweile fast zwei Millionen Dollar gespendet.
Am Sonntagabend war eine öffentliche Mahnwache geplant. Dort wurden auch Premierminister Justin Trudeau und andere Regierungsmitglieder erwartet, es sollte aber keine politische Veranstaltung werden. Trudeau hatte die »sinnlose Attacke« hart verurteilt und die Kanadier gebeten, nicht in Angst zu leben, sondern ihre Lebensgewohnheiten beizubehalten. Das Land müsse offen und frei bleiben. Rund 25 000 Menschen wurden zu der Trauerfeier auf dem Mel Lastman Square erwartet, der nur wenige Schritte vom Ort des Anschlags entfernt liegt.
In anderen Städten des Landes, wie in der Pazifikmetropole Vancouver, wird mittlerweile eine Gesetzesänderung des Human Rights Act gefordert, um Hassparolen im Internet und im öffentlichen Raum zu stoppen. Der erst 2013 auf Antrag eines konservativen Parlamentariers abgeschaffte Paragraf 13 des kanadischen Menschenrechtsgesetzes soll wieder eingeführt werden, fordern manche. Die Konservative Partei hatte damals die Redefreiheit gefährdet gesehen. Seither dürfen Hassgruppen in Kanada ungestraft im Internet hetzen und Parolen verbreiten. Kanada ist das einzige westliche Land, dass keinerlei schützenden Gesetze gegen Menschenrechtsverletzungen im Internet erlassen hat.
Die Bürgerbewegung Leadnow aus Vancouver will den fehlenden Paragrafen so schnell wie möglich wieder einführen, damit aus der Hetze im virtuellen Raum nicht kriminelle Handlungen im echten Leben entstehen. Selbst nach dem Attentat in Toronto brechen Online-Gruppen wie Incel ihre Aufrufe nicht ab und Mitglieder drohen weiterhin mit Säureangriffen und Massenvergewaltigungen.
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