»Wie ein Zauberschlüssel«
Ricarda Huchs Buch über die Romantik in der Anderen Bibliothek
Ein alter, so gut wie vergessener Band einer fast vergessenen Autorin, beinah hundertzwanzig Jahre alt und noch immer ein Juwel, feiert in der Anderen Bibliothek seine glanzvolle Wiederkehr. Geschrieben hat dieses Buch Ricarda Huch, als sie noch nicht die große, hochgeachtete, aber schon erstaunlich kraftvolle Schriftstellerin war.
Sie hatte, 1864 in Braunschweig geboren, in Zürich studiert, der einzigen Stadt in Europa, die Frauen den Zutritt zu den Hörsälen nicht untersagte, hatte Gedichte und einen Roman veröffentlicht, war in Zürich Bibliothekarin und in Bremen Lehrerin gewesen und unternahm dann mit siebentausend Mark, die sie zur Seite gelegt hatte, den »Sprung ins Ungewisse«. Wieder in Zürich, schrieb sie, berauscht von der Schönheit, vom Klang romantischer Dichtung und gedrängt von einer Freundin, ihr Buch über Blütezeit, Ausbreitung und Verfall der Romantik. Der erste Teil erschien 1899, der zweite 1902.
Von der Romantik war damals kaum die Rede, und was immer Ricarda Huch über sie gelesen hatte, wurde ihren Leistungen, den Briefen und Schriften der Dichter, die sie überrascht und beglückt kennengelernt hatte, nicht gerecht. Ihr Plädoyer war die erste ernsthafte Studie nach Rudolf Hayms opulenter Schrift von 1870 und wurde eine Pioniertat, für viele eine regelrechte Offenbarung. Hugo von Hofmannsthal erklärte in einem Brief, die Darstellung sei ihm im »geisterhaften richtigen Augenblick« in die Hände gefallen, »wie ein Zauberschlüssel«, und der sperre »mehr unterirdische Säle auf, als ich zählen kann«.
Was bis dahin unbeachtet oder unterbelichtet geblieben war, rückten die beiden Bücher ins Licht. Niemand, zum Beispiel, hat vorher mit so viel Verständnis und Einfühlung über Caroline Schlegel-Schelling geurteilt wie Ricarda Huch. Mit Entschiedenheit begegnet sie der verbreiteten Voreingenommenheit, den Verleumdungen und abfälligen Urteilen, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden, sie erzählt mit Hochachtung dieses abenteuerliche Leben mit all seinen Krisen und Wendungen, und sie würdigt Carolines Briefe als eindrucksvolle Kunstleistung. Später, 1923, wird der Insel-Verlag sie aus gutem Grund bitten, eine Auswahl jener Schreiben mit einer Einführung zu versehen.
In diesem Porträt offenbart Ricarda Huch schon all ihre Vorzüge. Sie ist beides und beides immer zugleich: Wissenschaftlerin und Dichterin, eine Autorin mit grundlegenden historischen Kenntnissen (ihre Dissertation verfasste sie 1892 über die Neutralität der Eidgenossenschaft während des spanischen Erbfolgekrieges) und dem feinen Sensorium der Künstlerin.
Faktenstark und elegant schreibt sie auch über die Schlegel-Brüder und Novalis, über Wackenroder, Tieck oder Brentano, über Märchen, das »Athenäum«, die Programmzeitschrift der Frühromantik, oder die Entdeckung des Unbewussten durch die Romantiker. Aber sie bietet nicht nur biografische Erzählungen und Werkbetrachtungen. Sie ruft die damals schon vergessenen Ideen der Romantischen Schule wieder in Erinnerung, hat nicht nur die Dichter im Blick, sondern behandelt genauso, höchst ungewöhnlich für jene Zeit, romantische Liebe, Politik und Philosophie, erlaubt sich auch Spaziergänge auf Nebenwegen, wo man auf Goethe, Schiller oder die fabelhafte Frau Aja, Goethes Mutter, trifft.
Natürlich wissen wir heute über Hölderlin oder Kleist, die hier im romantischen Umfeld auftauchen, wesentlich mehr und Entscheidendes besser, und dass Ricarda Huch die Leistungen E. T. A. Hoffmanns und Eichendorffs eher kritisch sieht, wird manchen Leser doch überraschen. Aber was macht das schon? Hier ist ein Buch, das von seiner Frische nichts verloren hat. Auch dort, wo ihm die Forschung inzwischen widerspricht, gehört es zu den seltenen, fundamentalen Schriften zur Literaturgeschichte.
Ricarda Huch: Die Romantik. Hg. von Christian Döring. Die Andere Bibliothek, 731 S., geb., 42 €.
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