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Sparen zu Lasten aller
LINKE: Das deutsche Pflegesystem muss grundlegend umgebaut werden
»Etwa jeder zweite Deutsche hat große Angst vor Pflegebedürftigkeit«, heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Studie der R+V-Versicherung. Und auch wenn diese Angst unterschiedliche individuelle Gründe hat, macht ein Blick auf das deutsche Pflegesystem klar, dass sie ganz objektiv berechtigt ist. Es fehlt an allen Ecken und Enden: an Pflegekräften, an ordentlichen Löhnen und Arbeitsbedingungen, an guter Pflege für die Patienten. Das machte Gesundheitsberaterin Cornelia Heintze am Dienstag in Berlin deutlich. Grund sei die marktwirtschaftliche Orientierung des Systems, die sich seit dem im Dezember 1992 beschlossenen Gesundheitsstrukturgesetz immer weiter ausgebreitet habe: »Die Patienten werden als Instrument der Rendite und der Erlöserwirtschaftung benutzt«, fasste sie das Problem zusammen.
Die Folgen von Krankenhausprivatisierungen und Kostenorientierung gehen zu Lasten aller: Die Patienten werden nicht angemessen versorgt, die PflegerInnen können die gestiegen Anforderungen nicht auf Dauer bewältigen und den Personalmangel nicht ausgleichen. Es fehlten rund 300 000 Pflegekräfte, um eine Versorgung wie in Finnland zu erreichen, so Heintze. Derzeit muss sich ein Pfleger im Krankenhaus um durchschnittlich 13 Patienten kümmern, in Finnland sind es nur 8,3. In der Altenpflege sieht es noch schlimmer aus, doch wegen der zersplitterten Struktur mit privaten Pflegediensten und vielen Trägern ist es schwer, vergleichbare Zahlen zu ermitteln. Im Pflegesystem-Vorzeigeland Norwegen kommen nur 5,4 Patienten auf einen Krankenhauspfleger.
Die Situation zu verbessern hatte sich auch die Große Koalition vorgenommen - zumindest ein bisschen. Mit einem Sofortprogramm sollen 8000 neue Pflegekräfte in die hierzulande rund 13 000 stationären Einrichtungen gebracht werden. Viel zu wenig, um auch nur die schlimmsten Mängel auszugleichen, wie Sozialverbände und Pflegeexperten kritisieren. Auch der aktuelle Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), eine bessere Bezahlung für Pflegekräfte durch eine flächendeckende Tarifbindung zu erreichen, klinge zwar gut, die Umsetzung sei aber schwierig, sagte Bernd Riexinger, Vorsitzender der Linkspartei, die Anfang der Woche eine großangelegte Kampagne gegen den Pflegenotstand gestartet hatte. Für einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag brauche es eine Basis, doch die existiere nicht. Besonders in der Altenpflege habe jeder Träger seine eigenen Regeln, auch seien die PflegerInnen kaum gewerkschaftlich organisiert und könnten wenig Druck auf die Arbeitgeber erzeugen.
Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Pflegeeinrichtungen von den Kirchen betrieben wird. Die müssen Tarifverträge nicht mit den Gewerkschaften aushandeln. Laut Spahn sind diese Rechtsfragen zwar lösbar, die LINKE setzt allerdings auf eine sofortige Anhebung des Mindestlohnes in der Altenpflege auf 14,50 Euro. Auch sollen Krankenhäuser ab sofort zehn Prozent mehr Ausbildungsplätze anbieten müssen; später sogar 20 Prozent, heißt es im »Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand«.
Weiter schlägt die LINKE vor, einen verbindlichen Personalschlüssel in der Altenpflege einzuführen, mindestens die Hälfte der Beschäftigten müssten Fachkräfte sein. Das Pflegepersonal müsse zudem aus den Fallpauschalen herausgenommen werden, so Riexinger. Das derzeitige System, bei dem die Krankenhäuser nicht die realen Behandlungskosten für die Patienten, sondern nur Durchschnittswerte auf Basis der Diagnose abrechnen können, führe zu unterfinanzierten Kliniken. Die sparten dann am Personal, auch Sanierungen und Modernisierungen würden aus Personalmitteln finanziert, so der LINKE-Chef. Für Investitionen müssten Bund und Länder deshalb mehr Geld bereitstellen, die LINKE rechnet mit fünf Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr.
Weil auch eine bessere Personalausstattung und höhere Löhne Geld kosten, will die Partei den Haushaltsüberschuss von Bund, Ländern und Kommunen - 2017 betrug er fast 37 Milliarden Euro - anzapfen. Auch die rund drei Milliarden Euro an Überschüssen, die sich bei den Krankenkassen angesammelt hätten, könnten für Sofortmaßnahmen ausgegeben werden. Mittelfristig brauche es eine stabile Finanzierung - die Einführung der Vermögensteuer könne Investitionen finanzieren sowie eine Wiederverstaatlichung von Kliniken ermöglichen. Eine solidarische Gesundheitsversicherung, in die alle einzahlen, würde die zusätzlich benötigten rund 100.000 Stellen allein in den Krankenhäusern absichern - und zugleich die Versichertenbeiträge für alle auf unter zwölf Prozent senken.
Vor allem müsse es nun schnell gehen, so Heintze. Bereits jetzt sei das deutsche Pflegesystem eins der Schlusslichter im europäischen Vergleich, nach der endgültigen Umsetzung des Pflegestärkungsgesetzes werde »Deutschland den Anschluss in Europa komplett verpasst haben«. Es sei Zeit, den marktorientierten Weg zugunsten eines am Patienten- und Beschäftigtenwohl orientierten zu verlassen.
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