Wiedersehen am Präsidentenpalast
Ein Jahr nach den letzten großen Bildungsprotesten gehen Argentiniens Lehrkräfte erneut auf die Straße
Mit einem nationalen Bildungsmarsch werden in der nächsten Woche mehrere Hunderttausend Lehrerinnen und Lehrer durch die Straßen von Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires ziehen und eine bessere Ausstattung der öffentlichen Schulen und eine deutliche Anhebung ihrer Gehälter fordern. Bereits seit Beginn des neuen Schuljahres Ende Februar unterrichten die Lehrkräfte in vielen Provinzen unter Protest. Vier Mal schon riefen die Gewerkschaften in der Provinz Buenos Aires zu einem Warnstreik auf. Auch am Mittwoch sollen die Klassenzimmer leer bleiben. Denn noch immer sind die Tarifverhandlungen für die rund 320 000 Lehrkräfte an den rund 18 000 Bildungseinrichtungen der Provinz - Kindergarten, Grund-, Mittel- und Abendschulen - nicht abgeschlossen. Die Gewerkschaften fordern eine Lohnerhöhung von mindestens 20 Prozent und eine automatische Inflationsanpassung. Die Regierung bietet bislang nur 15 Prozent.
In Argentiniens öffentlichem Bildungssystem kriselt es schon lange. Blickten die Nachbarländer jahrzehntelang neidvoll Richtung Río de la Plata, so stellte die Pisa-Studie Argentinien 2015 ein so schlechtes Zeugnis aus, dass sie von der OECD als nicht repräsentativ eingestuft wurde. Noch immer gelten deshalb die Resultate von 2012, die aber kaum besser ausgefallen waren. Argentinien pendelte damals um den 60. Rang - und war damit bei insgesamt 65 teilnehmenden Ländern fast Schlusslicht.
Dabei erlebt der öffentliche Bildungssektor nicht erst unter dem konservativen Präsidenten Mauricio Macri seinen Niedergang. Doch seit die Konservativen vor zweieinhalb Jahren im Bund und in der Provinz Buenos Aires, die den Hauptstadtdistrikt umschließt und mit 18 Millionen Einwohnern fast 40 Prozent der Bevölkerung des Landes beherbergt, die Macht übernommen haben, hat sich die Situation zugespitzt.
»Unter der Vorgängerregierung wurde in die Breite investiert, soziale Integration war das Stichwort. Die neue Regierung setzt auf die Auswahl der Besten und darauf, dass jeder für sein Vorankommen selber verantwortlich ist«, sagt Maria Luque, Sportlehrerin an einer Grundschule in San Fernando, einem kleinen Ort vor den Toren der Hauptstadt Buenos Aires. Aber selbst dafür würden die Voraussetzungen nicht geschaffen. Wurden unter der Vorgängerregierung noch Netbooks gratis an bedürftige Schüler verteilt, so hat die neue Regierung das eingestellt. »Wir unterrichten noch immer wie im 20. Jahrhundert und nicht, wie es im 21. Jahrhundert sein sollte«, sagt Luque. »Wir haben Bibliotheken, aber keine Mediatheken.«
Vieles von dem, was heute passiert, erinnert sie an den Neoliberalismus der Menem-Zeit. Damals sei es wichtiger gewesen, die Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu bedienen, als in ein besseres Bildungssystem zu investieren. Bildung ist in Argentinien erst seit 1997 Sache der Provinzen. Die Regierung von Präsident Carlos Menem übertrug in jenem Jahr zwar den Großteil des Bildungswesens - mit Ausnahme der Universitäten - den Provinzen, schickte aber kein Geld dafür mit. Weil sich abzeichnete, dass Lehrkräfte in armen Regionen des Nordens wesentlich schlechter bezahlt werden würden als ihre KollegInnen im vergleichsweise wohlhabenden Patagonien, schlugen damals etwa 50 LehrerInnen vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires ein Zelt auf und begannen einen Hungerstreik, dem sich in der Folgezeit über 1300 Lehrkräfte anschließen sollten. La Carpa Blanca, das weiße Zelt, wurde zum Symbol gegen die neoliberale Kahlschlagpolitik.
Schließlich bewilligte die Regierung Menem die Einrichtung eines Fonds, mit dem ein Mindestlohn finanziert werden sollte. Seither erhalten alle Lehrkräfte des Landes einen einheitlichen Mindestlohn, der jährlich ausgehandelt wird. Befürchtet wird aber, dass die Macri-Regierung den Lehrkräfte-Fonds demnächst abschaffen will. Die Furcht wurde größer, seit die Regierung Anfang Mai mit dem IWF wieder über neue Kredite verhandelt.
2017 hatten die Lehrkräftegewerkschaften eine 35-prozentige Anhebung gefordert. Aber die Provinzregierung bot den Unterrichtenden lediglich 17 Prozent. In dem folgenden sechs Monate währenden Arbeitskampf blieben die Schulen 17 Tage lang geschlossen. Nach Großdemonstrationen, öffentlichen Schulstunden und Bildungskarawanen einigten sich beide Seiten auf eine Lohnerhöhung von 27,4 Prozent. Das mag sich nach einem kräftigen Plus anhören. Aber für die Beschäftigten bedeutete der Abschluss einen realen Kaufkraftverlust. Denn 2016 lag die Inflationsrate in Argentinien bei über 40 Prozent.
Mit ihrem Monatslohn von rund 650 Euro für täglich vier Unterrichtsstunden liegt die Sportlehrerin Maria Luque im Provinzdurchschnitt eines Lehrkräftelohns. »Viele arbeiten einen doppelten Turnus, also acht Unterrichtsstunden pro Tag, um über die Runden zu kommen«, sagt sie. Aber es geht nicht nur um bessere Löhne. »In Anbetracht der enormen sozialen Probleme ist das Schulsystem noch relativ gut, und das müssen wir gegen diese Regierung verteidigen.«
Die Schule ist oftmals der einzige Platz, in dem die Kinder zwei Mahlzeiten am Tag bekommen. »Und der Provinzregierung fällt nichts Besseres ein, als die Versorgung mit Frühstück und Mittagessen immer weiter zusammenzustreichen«, klagt die Lehrerin. Im dicht besiedelten Gürtel um die Hauptstadt, in dem San Fernando liegt, lebt nahezu jeder dritte Bewohner unterhalb der Armutsgrenze. Diese wird in Argentinien nach dem Wert eines Warenkorbs für eine vierköpfige Familie bemessen und liegt bei 700 Euro.
Der Provinzregierung ist vor allem der hohe Arbeitsausfall ein Dorn im Auge. Im vergangenen Jahr mussten im Monatsdurchschnitt für 117 000 Lehrkräfte Vertretungen gestellt werden, meist wegen Krankmeldungen. Kostenpunkt: 760 Millionen Euro. Trotz eines Bildungshaushalts von 5,1 Milliarden Euro kein kleiner Betrag. Mit Anwesenheitsprämien versucht die Politik gegenzusteuern.
Am Mittwoch werden dennoch wieder zahlreiche Schulen geschlossen bleiben. Massiv werden die Lehrkräfte auf die Plaza de Mayo im Zentrum der Hauptstadt Buenos Aires vor den Präsidentenpalast ziehen. »Die Regierung geht gegen Errungenschaften im öffentlichen Bildungsbereich vor. Damit verlieren nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch die Kinder und Familien, die am wenigsten haben«, warnt eine Gewerkschafterin.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.