• Politik
  • Protestkultur in Frankreich

Permanentes Rennen im Tränengas

Sebastian Lotzer feiert in seinem Buch »Winter is coming« die wilden Demonstrationen in Frankreich - seine Thematisierung bleibt oberflächlich

  • Markus Mohr
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn in Frankreich eine Regierung neoliberale Reformen plant, muss sie mit wilden Demonstrationen rechnen. »Manif sauvage« ist dafür der französische Begriff. Das Buch »Winter is coming« (Der Winter kommt) widmet sich eben jenen. Es wurde von dem sich selbst als »leicht ergrauten Chronisten sozialer Bewegungen« bezeichnenden und unter Pseudonym schreibenden Autor Sebastian Lotzer herausgegeben.

Auf seinem Twitter-Account hält dieser sich selbst zugute, »niemals in die Verlegenheit zu kommen, die Machtfrage stellen zu wollen oder zu können.« Die nun von ihm in dem Buch aus französischen Internetquellen versammelten Texte sind ein Dementi dieser Aussage: Denn bei den dort aus Aktivistensicht abgehandelten Straßenkämpfen geht es gegenüber den »flics«, was der umgangssprachliche Ausdruck für Polizisten in Frankreich ist, natürlich immer auch darum, im beanspruchten Territorium wenigstens für einen explosiven Moment die Machtfrage zu stellen.

Die von Lotzer versammelten Texte sind Manifeste einer auch als »unregierbar« bezeichneten jungen Generation, die in den vergangenen Jahren in Frankreich vielfältig revoltiert hat. Etwa gegen die von der sozialistischen Hollande-Regierung geplanten Einführung neuer Arbeitsgesetze (loi travail), aber auch auch gegen rassistische Polizeigewalt und ihre zuweilen mörderische Folgen.

Dabei durchzieht diese Texte immer wieder eine explizite Hymne auf das Schlachtengetümmel: »Die flics waren in Paris massiv aufgefahren, die Schülerdemo (...) wurde von ihnen mehrmals, auch mit Tränengas angegriffen. Die Leute haben sich aber gut verteidigt, teilweise musste die Polizei ordentlich einstecken. Bei der zentralen Demo in Montparnasse kam es dann (...) zu Schlägereien mit dem Ordnungsdienst der CGT (...) Zu wagemutige Zivilbullen, die sich zu nahe an die manif sauvage trauten, mussten das Weite suchen, als Molotows in ihre Richtung flogen.«

Die Texte illustrieren, dass der, der jung und schnell ist, das Tränengas besser wegsteckt und sich auch leichter mit den Polizisten prügeln kann. Politiker aus linken Gruppen oder redegewandte Figuren aus dem, Lotzer nennt es despektierlich: »intellektuellen Sektor der Gesellschaft«, können dabei nur stören.

Das Schlusskapitel wird mit der Ansage: »Winter is coming. Alle wissen es. Diese Welt ist dem Untergang geweiht« eröffnet und mit dieser gewissermaßen eskortiert. Die Aufnahme von Wettermetaphern in Texten zu allgemeinen politischen Angelegenheiten ist das immer so eine Sache: Da der Mensch bislang noch keinen richtigen Einfluss auf die Gestaltung des Wetters, geschweige denn auf die Jahreszeiten hat, ist es schwer, solchen damit verknüpften Aussagen zu widersprechen. Allemal ist es richtig, dass der Winter immer nach dem Herbst kommt, auf den wiederum das nächste Frühjahr folgt. Wer würde das in Frage stellen?

Am Ende seiner Überlegungen in dem Buch zeigt sich Lotzer davon überzeugt, dass nunmehr, im Angesicht »kommender Zustände«, wie er schreibt, »eine auf die Realität ausgerichtete Organisierung unabdingbar« sei, um dann wohl illusionslos zu deklamieren: »Wunschvorstellungen und Projektionen werden uns nicht weiter bringen.« Und eben diese Organisierung finde nun mal »nicht auf Plena, Vernetzungstreffen oder auf Kongressen« statt, sondern werde »auf der Straße stattfinden müssen.«

Dabei hatte Lotzer noch zu Beginn seiner Schlussbetrachtungen die alte in der westdeutschen Alternativbewegung in den 1970er Jahren zirkulierende Weisheit zustimmend zitiert: »Nur Stämme werden überleben.« Aber eben diese hocken doch als Gemeinschaft vielleicht nicht auf Plena, aber doch zumindest stets an der Biegung des Flusses auf ihren Zeltplätzen zusammen. Und dabei reden sie sogar in der gebotenen Ruhe ernsthaft miteinander, als ein ganz wesentlicher Keim und Quell ihrer autonomen Assoziation und rennen gerade nicht permanent im Tränengasnebel auf der Straße hin oder her. So fragt man sich am Ende des Buches mit einer gewissen Ratlosigkeit, wie das wohl alles zusammen passen mag.

Sebastian Lotzer: Winter is coming. 144 Seiten, 14 Euro.

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