Prag - Osnabrück - Damaskus?

Wie sich Deutschland einst an den Dreißigjährigen Krieg erinnerte - und welchen Sinn man diesem heute zuschreibt

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.

In einem »lustigen Taschenbuch« mit Donald Duck gibt es eine Episode, in der dessen oberschlaue Neffen verzweifelt aus der Schule kommen. Die Fragen der Geschichtsklausur waren viel zu schwer! Woher soll man denn wissen, wie lange der Dreißigjährige Krieg gedauert hat?

Tatsächlich ist der große Krieg, der vor 400 Jahren auf der Prager Burg begann, heute eher ein Expertenthema als ein Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses. Das ist bemerkenswert, galt dieser Krieg doch, woran jüngst der Historiker Peter H. Wilson erinnert, noch um 1950 als deutsches Trauma überhaupt. Zudem ist er noch immer gegenwärtig: in den sprichwörtlichen »Pappenheimern« - den rücksichtslosen Soldaten des kaiserlichen Heerführers Gottfried Heinrich zu Pappenheim - oder in Wendungen wie »Lunte riechen«, was auf die stechende Note der Zündschnüre alter Vorderlader anspielt, die den Musketieren verräterisch vorauseilte.

Das Verblassen des Andenkens an den furchtbaren Krieg um Tilly, Wallenstein, Pappenheim und Gustav Adolf zeigt exemplarisch, wie gesellschaftliche Erinnerung funktioniert: Was heute keinen »Sinn« ergibt, entschwindet dem Gedächtnis. Oder die Erinnerung verändert sich, wenn neuer Sinn gefragt ist - nicht selten in ihr Gegenteil.

Dass der Krieg zwischen 1618 und 1648 nach 1945 zunächst an den Rand rückte, hatte demnach weniger mit einer Überdeckung durch jüngere Exzesse zu tun als mit der geopolitischen Ordnung. Diese ließ den Sinn verschwinden, den man am Stamm- wie Kabinettstisch lange mit dem Dreißigjährigen Krieg verband - den Mythos der deutschen »Mittellage«.

Aus dieser Sicht »lehrte« der Dreißigjährige Krieg, dass man von mächtigen Gegnern umgeben sei, die sich jederzeit verbünden oder das Reich zum Spielball ihrer Konkurrenz machen könnten. Das war eine Verzerrung - der Krieg nahm seinen Anfang in internen Machtkämpfen, die externe Einmischung erst provozierten -, aber sehr wirkmächtig. Denn diese Denkfigur kultivierte die Haltung, Deutschland sei ein potenzielles Opfer seiner Lage zwischen West und (Nord-)Ost - und könne diesem »Schicksal« nur durch Stärke entrinnen. Handfest wurde das in der aggressiven Politik der »Mittelmacht«, die im 20. Jahrhundert dann tatsächlich in aussichtslose Zweifrontenkriege mündete, was ihre Prämisse quasi bewahrheitete. Und folgerichtig verschwand umgekehrt die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg zunächst, als das eine Deutschland zum Osten des Westens wurde und das andere zum Westen des Ostens - und dazwischen keine »Mitte« mehr bestand.

Nun hat sich die Geografie bekanntlich verändert. Der »Osten« - Russland - ist zurückgeworfen, zwischen ihm und dem alten Westen ist ein Halbwesten entstanden, in dem das heute westliche Deutschland großen Einfluss hat. Die veränderte Geopolitik aktualisiert nun offenbar - selten explizit, aber unübersehbar - eine andere, positivere, eher liberale als nationale Konzeption der »Mitte«, von der gleichfalls bereits in den 1920er Jahren die Rede war: »Mitteleuropa« als Raum zwischen Deutschland und Russland, in dem der deutsche Staat, seinen Nachbarn ökonomisch überlegen, als Hegemon agiert, als ausgleichende Friedens- statt auftrumpfende Militärmacht.

Zumindest im Ansatz findet sich nun diese neue deutsche Selbstverortung in neuen Lehren aus dem Dreißigjährigen Krieg: Betont wird jetzt nicht mehr jene »Einkreisung«, die ihn heraufbeschworen habe, sondern sein Ende im Frieden von Osnabrück und Münster - der, wohlgemerkt, in der älteren Erinnerung gerade als Vollendung der Katastrophe gewertet wurde, als fatale Schwächung der Zentrale des Reichs und dessen imperialer Handlungsfähigkeit.

Heute dagegen heißt es, in oder gar durch Deutschland sei im »Westfälischen Frieden« Verständigung auf Augenhöhe vorgelebt worden. Ganz im Sinne einer solchen Lesart von Deutschland als Friedensmacht fragte jüngst die Moderatorin eines TV-Kulturmagazins den Politologen Herfried Münkler, ob somit nicht »endlich« etwas Vorbildliches in der deutschen Geschichte gefunden sei. Und die »Deutsche Welle« erblickt nicht nur einen »Grundstein« der Bundesrepublik, sondern einen Keim von Völkerrecht und europäischer Einigung: Man habe 1648 erstmals kollektiv »Verantwortung« für den Kontinent übernommen.

Sicher ist die neue Deutung sympathischer als die alte, »richtiger« ist sie nicht. Sie produziert nur Sinn für eine neue Gegenwart, die im Heute geformt wird. Verdeutlichen sollte man sich dies zumal hinsichtlich einer weiteren Parallele, die neuerdings oft gezogen wird: zwischen dem Dreißigjährigen und dem syrischen Krieg.

Es ist richtig, dass - wie Münkler in der erwähnten Sendung sagte - jener in Bezug auf diesen bedeutet, dass alle Akteure relevant sind und »Assad muss weg« daher keine Politik sei. Um aber eine nachhaltige Lehre für die Zukunft zu ziehen, müsste man darüber hinaus sehen, dass Syrien explodierte, weil der Westfälische Friede - ganz im Gegensatz zur neuen Rede über den Dreißigjährigen Krieg - heute weitgehend vergessen ist: Stimmt es, dass dessen Vermächtnis in einem Staatensystem besteht, das auf Anerkennung ungeachtet von Macht basiert, fällt die »Weltgemeinschaft« hinter 1648 zurück, seit sie Staatensouveränität grundsätzlich zur Disposition stellt - und sei es im Namen der Menschenrechte.

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