Frankreichs Gedächtnis
Mit einem sinnlich-gehauchten «Bonsoir» begrüßte die Gastgeberin das Publikum. Frankreichs Botschafterin Anne-Marie Descôtes hatte in «ihr» Haus am Pariser Platz zu einer Debatte über das Gedenken in ihrer Heimat an die Schrecken der deutsch-faschistischen Okkupation geladen - eine Veranstaltung im Rahmen der von Günter Morsch, Direktor der Gedenkstätte Sachsenhausen, initiierten Reihe über europäische Erinnerungskultur. L‘Ambassadrice zitierte ob des Wiedererstarkens von Rechtspopulismus, Nationalismus, Geschichtsrevisionismus und Holocaust-Leugnung - «was »ohne Zögern zu bekämpfen ist« - Voltaire: »Die Erinnerung ist das, was unsere Identität ausmacht.« Dass es indes weder in Frankreich noch anderswo, schon gar nicht in der EU, die »eine« Identität gibt, wurde in der Diskussion deutlich, die Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, mit der Bemerkung eröffnete, es sei im zerstrittenen Europa mit der Erinnerung nicht einfacher geworden.
Mechthild Gilzmer, Professorin für romanische Kulturwissenschaft an der Universität des Saarlandes, berichtete, dass in den ersten Jahren nach dem Krieg in Frankreich die von Kommunisten dominierte Résistance, vor allem deren bewaffneter Arm, im Mittelpunkt des Gedenkens stand. Unter der Präsidentschaft von Charles de Gaulle rückten die im britischen Exil aufgestellten Forces françaises libres (FFLl) in den Fokus. Erst Mitte der 1990er Jahre wurde ein mehrheitlich gehütetes Tabu aufgebrochen, nun auch über Kollaboration nicht nur in Vichy-Frankreich gesprochen. Das verdankte sich jedoch nicht allein der Rede von Jacques Chirac, der 1995 als erster Präsident die aktive Beteiligung seiner Landsleute an der Deportation der Juden eine »unauslöschliche Schuld« nannte. Lange zuvor hatten darauf engagierte Antifaschisten gedrängt, darunter Serge und Beate Klarsfeld.
Schwierigkeiten bereiten laut Gilzmer den Franzosen noch heute die eigenen Internierungslager, in denen am Vorabend des Überfalls Hitlerdeutschlands Emigranten und Spanienkämpfer verschiedener Nationen gepfercht worden sind. Generell seien viele Gedenkstätten in Frankreich erst in den letzten 15 Jahren entstanden. Im ehemaligen deutschen KZ Natzweiler-Struthof im Elsass, in dem 52 000 Häftlinge aus ganz Europa von 1940 bis 1944 schmachteten, wurde hingegen früh eine Gedenkstätte errichtet, wie Fréderique Neau-Dufour, Leiterin des dortigen Europäischen Zentrums des deportierten Widerstandskämpfers, informierte. Anfänglich (im Kaltem Krieg) habe man jedoch die polnischen und sowjetischen Opfer verschwiegen.
Zum Wandel in der französischen Erinnerungskultur gehört nach Gilzmer ebenso, dass die »Boches«, wie die Deutschen noch lange nach dem Krieg geschimpft wurden, nicht mehr »die Bösen« schlechthin seien. Obwohl jüngst vermehrt Bücher über deutsche Täter und die Kumpanei des deutschen Großkapitals mit den Nazis in Frankreich erschienen sind und mit Preisen bedacht wurden. Auf die Frage von Moderator Morsch nach einem gemeinsamen europäischen Erinnerungstag lehnten beide Wissenschaftlerinnen den vom EU-Parlament auserkorenen 23. August (Datum des »Hitler-Stalin-Paktes«) ab und verwiesen (zu Recht!) auf den 8. Mai.
Abschließend noch ein Tipp an die Botschaft: In Falkensee bei Berlin lebt der letzte deutsche Résistancekämpfer: Erhard Stenzel.
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