Klettern am Kraftwerkskessel

Ein Buch versammelt Geschichten zum Strukturwandel im Lausitzer Revier

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Den Heimatort von Christina Grätz, den gibt es nicht mehr. Er lag in der Nähe von Spremberg und musste dem Braunkohletagebau weichen. »In meiner jugendlichen Sturm- und Drangzeit kämpfte ich gegen die ›Scheißkohle‹. Ich machte bei der Besetzung eines Dorfes mit, als feststand, dass es abgebaggert werden sollte. Ich war einfach wütend, dass mir der Tagebau damals die Heimat weggenommen hatte«, erinnert sie sich. »Mit dem Erwachsenwerden merkte ich, dass ich den Abbau der Braunkohle nicht verhindern kann.«

Heute lebt Grätz indirekt von den Tagebauen - und muss deswegen nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben. Denn ihre Nagola Re GmbH mit Sitz in Jänschwalde verdient ihr Geld mit der Renaturierung von Kippen. Ab 2020 muss für solche Vorhaben heimisches Saatgut verwendet werden und Nagola Re erzeugt und vertreibt es. »Hier entsteht ein riesiger Markt«, sagt die Biologin, die sich selbstständig machte und mittlerweile 15 Kollegen und zwei Saisonkräfte beschäftigt. Sie habe gemerkt, »dass ich sehr viel erreichen kann, wenn ich mich einbringe, anstatt immer nur dagegen zu sein«. Die GmbH arbeitet mit Landwirtschaftsbetrieben zusammen, die Technik zur Verfügung stellen. Die Mitarbeiter lassen inzwischen beim Mähen bestimmte Stücke unberührt. Wenn der Chef sie nach dem Warum fragt, so antworten sie: »Da blüht doch die Grasnelke!« Diese Pflanze steht unter Naturschutz.

Am Mittwoch befasst sich der Landtag auf Antrag der SPD-Fraktion in einer Aktuellen Stunde mit dem Strukturwandel im Lausitzer Revier. Der wirtschaftliche Schwerpunkt der Region liege nach wie vor auf der Braunkohleindustrie, begründet die SPD ihren Antrag. Allerdings werde die Bedeutung der fossilen Brennstoffe abnehmen. »Deswegen muss die Lausitz dabei unterstützt werden, ihre industrielle Basis weiter zu verbreitern.« Der Bund beabsichtige, bis zum Jahr 2021 anderthalb Milliarden Euro für die Strukturentwicklung in diesem und in anderen Revieren bereitzustellen. Menschen und Firmen in der Lausitz seien aufgerufen, Konzepte zu entwickeln.

Die Innovationsregion Lausitz GmbH ist bereits dabei, Ideen zu sammeln. In Zusammenarbeit mit dem Verlag Rohnstock Biografien hat sie von April 2017 bis Februar 2018 einen Erfahrungsaustausch organisiert. Bei zehn verschiedenen Erzählsalons kamen Unternehmer und Manager zusammen. Nach den zumeist eingehaltenen Regeln von Verlegerin Katrin Rohnstock - es wird nur erzählt, nicht unterbrochen und nicht diskutiert - entsanden Berichte darüber, wie jemand Unternehmer wurde, wie Firmen Umbrüche bewältigten, neue Märkte erschlossen oder die alten Chefs einen Nachfolger fanden.

Das Wirtschaftsministerium hat dies finanziell gefördert. Jetzt gibt es die Geschichten als Buch. »Chancen der Lausitz. Gründer, Gestalter und Nachfolger erzählen«, lautet der Titel. Das Buch liegt nur in limitierter Auflage vor, kann jedoch kostenlos im Internet heruntergeladen werden.

Das Revier habe bereits in den 1990er Jahren »Deindustrialisierung und Arbeitsplatzabbau« erlebt, schreibt Staatssekretär Hendrik Fischer im Vorwort. »Energie- und klimapolitische Entscheidungen dürfen nicht noch einmal zu einer Situation wie damals führen.« Für Fischer gibt es auch Ermutigendes. Denn zahlreiche Unternehmen der Braunkohleindustrie seien »längst in anderen Branchen und auf anderen Märkten tätig«.

Ein Beispiel dafür ist die 560 Mitarbeiter zählende Unternehmensgruppe Helbeck. Zum kleinen Imperium von Chefin Iris Helbeck gehört die Forster Industrie- und Kesselreinigungsgesellschaft mbH. Als nach der Wende das Dienstleistungskombinat Cottbus privatisiert wurden und keiner wusste, wie es weitergehen wird, gründete die vormalige Produktionsleiterin Iris Helbeck im März 1991 eine eigene Gebäudereinigungsfirma. Als erste Kunden gewann sie in Forst das Krankenhaus, das Gymnasium und das Oberstufenzentrum. Eine der Herausforderungen war die Außenreinigung der Kessel im Braunkohlekraftwerk Boxberg. Der Auftrag sollte ohne Gerüste ausgeführt werden. Iris Helbeck erinnert sich: »Ich hatte viele junge Gesellen mit Mumm, also sagte ich: ›Kommt, wir machen eine gute Truppe draus.‹ Wir übernahmen die Kosten und die Jungs absolvierten die Kletterausbildung mit Bravour.« Doch Helbeck weiß, »dass die Lausitzer Kraftwerke eines Tages schließen werden«. Deshalb begann ihre Unternehmensgruppe vor fünf Jahren, andere Geschäftsbereiche zu erschließen, darunter die Reinigung von Müllverbrennungsanlagen, inzwischen auch von Biogasanlagen.

In den Salons wurden längst nicht nur schöne Erfolgsgeschichten erzählt. Schlimme Zeiten waren es, als die arbeitslose Carola Buder 1992 ihr Gewerbe anmeldete und zunächst in Kolkwitz eine Änderungsschneiderei samt Modegeschäft eröffnete. Die Textilindustrie, das zweite traditionelle Standbein der Region, war weggeschlagen. Die Menschen zogen weg oder ihnen fehlte das Geld, Mode zu kaufen. Deswegen wäre Buder beinahe Pleite gegangen und sie musste zwei in Vetschau eröffnete Filialen aufgeben. Seit 2005 schlägt sich die mittlerweile 64-Jährige mit einem Laden in Cottbus durch. Angestellte hat sie keine mehr.

rohnstock-biografien.de/ lausitzer-unternehmergeschichten

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.