• Politik
  • Selbstorganisierte Arztpraxen in Griechenland

Widerstand statt Mitleid

Der Dokumentarfilm »Krisis« begleitet die Unterstützer einer solidarisch geführten Arztpraxis in Piräus

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Anfang Mai wurde in Berlin der Dokumentarfilm »Krisis« über die Arbeit der solidarischen Praxis Piräus voraufgeführt. Gedreht wurde der 90-minütige Streifen zwischen Januar 2015 und Dezember 2016. In diesen Zeitraum fielen zwei Wahlen, internationale Verhandlungen über die griechischen Schulden und das Referendum zu den Reformforderungen der internationalen Gläubiger. Unter großem inneren und äußerem Druck wandelte sich auch die linke Syriza-Partei. Die Bevölkerung hatte schon in den Vorjahren mit den Folgen rigider Sparmaßnahmen zu kämpfen, die sich auch im Gesundheitswesen zeigten. So war für viele Menschen, die über nur geringe Einkommen oder Renten zwischen 300 und 400 Euro verfügten, der Zugang zur medizinischen Versorgung versperrt. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ging damals landesweit für drei Millionen Menschen auf einen Schlag die Krankenversicherung verloren.

Trotz dieser dramatischen Entwicklungen hat der Film, im Original griechisch und englisch mit deutschen Untertiteln, auch Momente der Ruhe. Kleine komische Szenen zeigen, wie nahe Regisseur Wolfgang Reinke und seine Kameraleute an die Menschen herangekommen sind. Die Wohnungen und Küchen, in denen sich das Leben abspielt, vermitteln Alltäglichkeit, ebenso die Wortgefechte zwischen Eheleuten, ihre ironischen Anspielungen wie etwa der Anspruch, in Fragen des Kochens das letzte Wort zu haben.

Der Herd, die Spüle, die Einbauschränke, die engen Küchen im Neubau, das könnte in vielen Städten weltweit so aussehen. Dennoch ist in Piräus 2015 und 2016 gerade nicht mehr viel normal. Griechenland steckt in der Krise. Öffentliche Einrichtungen können nicht mehr arbeiten wie üblich. Deshalb haben einige Aktivisten, Ärztinnen, Apothekerinnen und andere Freiwillige die solidarische Praxis eingerichtet. Die Gemeinde eines Stadtteils am Rand von Piräus stellte Räume zur Verfügung, es wird improvisiert ohne Ende. Auch etliche Fachärzte arbeiten in ihrer Freizeit mit, vertreten sind Spezialisten für Verdauungskrankheiten, Hautleiden, Frauen- und Kinderärzte oder Allgemeinmediziner. Insgesamt sind mindestens 50 Freiwillige dabei, zeitweise sogar bis zu 100.

Immer wieder kommen Regale mit Medikamenten in den Blick, Schachteln werden hin- und hergeschoben. Natürlich fehlt vieles. Die Freiwilligen sammeln die Spenden in Apotheken ein, manchmal bringt jemand etwas vorbei. Vermerkt wird alles auf Papier, in Büchern. Bei diesen Sequenzen wird klar, was es heute bedeutet, ohne Computer, ohne Internet Abläufe wie die in einer kleinen Apotheke oder einer Poliklinik abzuwickeln. Befunde werden gesucht, Termine vereinbart. Ganz zu Beginn funktioniert nicht einmal das Telefon. Resigniert erklärt Fotis Andreopoulos, einer der Aktivisten: »Wir können nur angerufen werden« - aber nicht selbst telefonieren. Das hängt irgendwie damit zusammen, dass die Gemeinde die Telefonrechnung noch nicht bezahlt hat. Immer wieder gibt es solche Situationen, die das ganze Projekt ausbremsen könnten. Die Freiwilligen machen aber weiter, kämpfen sich auch durch ihren eigenen Alltag. Man lernt Familienmitglieder kennen und erlebt regelrechte Tragödien. Bei einem Ehepaar sind die erwachsenen Kinder zu Gast, zwei Söhne, der eine mit seiner Frau. Das junge Paar will nach Deutschland auswandern. Lakonisch sagt der Sohn, er werde zunächst bei Verwandten arbeiten. Die Schwiegertochter ist Harfenistin, auch sie hofft, dass sich in Deutschland etwas auftun wird. Die Eltern ahnen, dass das nicht gut geht. In Worte fassen können sie das kaum.

Diese privaten Szenen wirken noch stärker, weil die Aktivisten, mehrheitlich älter als 50 Jahre, nicht nur gegen alle Widrigkeiten die solidarische Praxis führen, sondern sich immer wieder über deren Rolle verständigen und diese hin und wieder auch infrage stellen. Diskutiert wird mit großer Ernsthaftigkeit, etwa über Forderungen an die Syriza-Regierung oder darüber, ob man überhaupt noch weitermachen soll. Sowohl in diesen Debatten als auch in Dialogen mit den Patienten wird deutlich, dass es hier niemandem um Wohltätigkeit geht, sondern um Solidarität durch eigenes Handeln. Manchmal kommen die Aktivisten an ihre Grenzen, etwa bei dem Eingeständnis, dass zu wenige oder gar keine Jungen die Praxis unterstützen.

Heute, so berichtet Filmemacher Wolfgang Reinke, sind von der vorgestellten Klinik in Piräus noch eine Zahnarztpraxis und eine Apotheke übrig. Beides Bereiche, für die in Griechenland hohe Zuzahlungen verlangt werden. So benötigen die verbliebenen Freiwilligen noch immer Medikamentenspenden und Geld zum Kauf zahnärztlicher Materialien. Jedoch können die Menschen jetzt wieder in die Krankenhäuser gehen und sich dort behandeln lassen, auch wenn sie nicht versichert sind. Zeitweise gab es in Griechenland etwa 40 solidarische Gesundheitseinrichtungen.

Finanziert wurde der sehenswerte Dokumentarfilm aus mehreren Töpfen, unter anderem war die Rosa-Luxemburg-Stiftung dabei. Den größten Anteil vom Gesamtbudget von 34 000 Euro erbrachte eine Crowdfunding-Aktion. Normalerweise sind für ein Projekt dieser Art mindestens 200 000 Euro nötig. Angesichts dieser prekären Bedingungen braucht das Produktionsteam noch Unterstützung für Verleih und Aufführungen

Weitere Informationen unter: www.krisis-film.info

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