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  • Skandal-Rede von Alexander Gauland

Geisterbahn und Vogelscheiße

Die Rede von der »erfolgreichen tausendjährigen deutschen Geschichte« knüpft an ein etabliertes Geschichtsbild an

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 5 Min.

Alexander Gauland, Fraktionschef der AfD im Bundestag und Parteivorsitzender, hat »Vogelschiss« gesagt - und alle Welt steht Kopf. Zunächst ist das berechtigt. Denn den Holocaust in seiner monströsen Singularität, den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten, die Verwüstung Europas durch die Wehrmacht - all dies als »Vogelschiss« zu bezeichnen, ist (inklusive durchsichtiger »Entschuldigungen« im Nachhinein) bewusst betriebener Geschichtsrevisionismus.

Die einhellige Empörung aber täuscht darüber hinweg, wie anschlussfähig große Teile der Einlassungen Gaulands an das bürgerliche (ja, bürgerliche!, also jenes in der bürgerlichen Klassengesellschaft und dem mit ihr untrennbar verbundenen Nationalstaat vornehmlich verankerte) Geschichtsbild sind. Fast gänzlich unbeachtet blieb in den Reaktionen der vergangenen Tage nämlich der zweite Teil von Gaulands Aussage, in der der bekennende Bismarck-Fan behauptete, es gäbe eine »ruhmreiche« und »erfolgreiche tausendjährige deutsche Geschichte«.

Zunächst einmal ist das dümmliche Geschichtsmathematik. Natürlich sind tausend Jahre im Verhältnis zu zwölf Jahren sehr lang. Der absurden Logik zufolge, die Länge der Zeit sei irgendwie proportional zur historischen »Bedeutung«, wäre das Paläolithikum (die Zeit von Beginn der Existenz des Menschen bis zur Neolithischen Revolution vor etwa 11 000 Jahren) zigmillionen Mal »wichtiger« für die Gegenwart als beispielsweise die industrielle Revolution.

Entscheidender an Gaulands Rede von den »tausend Jahren« ist allerdings, dass er damit an die Tradition der Nationalgeschichtsschreibung anknüpft, die bis heute lebendig ist (zum Beispiel in den Schulbüchern), eine wichtige Funktion bei der Schaffung »nationaler Identität« erfüllt und Teil des ideologischen Kitts für die bürgerliche Gesellschaft ist. Die Nationalgeschichte gibt dem Glauben an eine Gemeinsamkeit »aller Deutschen« gegen die Realität der Klassengegensätze Festigkeit, indem sie eine historische Dimension und Kontinuität vorgaukelt.

»Die Vergangenheit verleiht den Heiligenschein der Legitimität«, schrieb der linke britische Universalhistoriker Eric Hobsbawm 2003. Sie biete den »ruhmreichen Hintergrund für eine Gegenwart, die selber nicht viel hermacht«. Er beschreibt dies mit einem Beispiel: »Ich erinnere mich, dass mir irgendwo eine Arbeit über die Hochzivilisation der Städte im Indus-Tal mit dem Titel ›Fünftausend Jahre Pakistan‹ auffiel. Vor 1932/33, als der Name von militanten Studenten erfunden wurde, existierte Pakistan nicht einmal als Gedanke. Bis 1940 gab es Pakistan noch nicht mal als politisches Ziel. Zum Staat wurde es erst 1947. Zwischen der Kultur von Mohenjo Daro und den gegenwärtigen Herrschern in Islamabad gibt es keine engere Beziehung als zwischen dem Trojanischen Krieg und der Regierung in Ankara.« Hobsbawm zufolge ist die Vergangenheit »das Rohmaterial für nationalistische, ethnische oder fundamentalistische Ideologien« - wie Mohn der Rohstoff für Heroinabhängigkeit ist.

Methodisch nicht anders als die Schöpfer der pakistanischen Nation ging Angela Merkel an die Geschichte, als sie 2009 bei der Eröffnung der Ausstellung zu 2000 Jahren Varusschlacht in Kalkriese davon sprach, dass »wir das als Germanen eben auch nicht aus eigener Kraft geschafft« hätten, friedliche Zeiten zu erleben (sondern, so Merkel, des europäischen Gedankens bedurften). Der TV-Historiker und »Geschichtslehrer der Nation« Guido Knopp produzierte seine monumentale Doku-Reihe »Die Deutschen« nicht zufällig als Lauf vom Frühmittelalter bis zur »Einheit« 1990, verbunden mit der Frage: »Wer sind wir? Woher kommen wir?« Gauland kann sich also auf eine durch Herrschaftsinteressen massenhaft verbreitete Vorstellung von Geschichte stützen.

Wenn er sagt, »wir haben eine ruhmreiche Geschichte«, dann ist das – wie auch Merkels Rede von »uns Germanen« – das Gegenteil dessen, womit Marx und Engels vor 170 Jahren das erste Kapitel des »Kommunistischen Manifests« einleiteten, nämlich dass »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft (...), die Geschichte von Klassenkämpfen« sei. Das deutsche »Wir« kann es in einer solchen linken Perspektive auf die Geschichte nicht geben; sie ist vielmehr in der Tradition der »vaterlandslosen Gesellen« an den Widersprüchen und Verwerfungen der Klassengesellschaft interessiert, die beispielsweise in den Sozialistengesetzen des 19. Jahrhunderts, im Ersten Weltkrieg oder im deutschen Kolonialismus ihren Ausdruck fanden.

»Klassenlose« Nationalgeschichtsschreibung wiederum verhindert auch eine Erklärung für »die zwölf Jahre«, über die der Auschwitz-Überlebende und Kritiker der These eines »kollektiven Wahnsinns« Primo Levi einst schrieb, man könne sie zwar »nicht verstehen«, müsse und könne aber versuchen, zu verstehen, »woher es entsteht« (»Die Untergegangenen und die Geretteten«).

Um das Verstehenwollen ist es in der Bundesrepublik jedoch nie gut bestellt gewesen, auch nach Weizsäcker nicht. Die Deutung des Nationalsozialismus als über Land und Leute gekommene Düsternis ist eben auch außerhalb der AfD und der Neuen Rechten Mainstream. Die Agit-Prop-Band »Schmetterlinge« ironisierte einst treffend einen Geschichtslehrer mit der Liedzeile: »Heut fahrn wir in der Geisterbahn - Kinder, heut ist der Faschismus dran. Ich zeig euch im Seelengekröse des Menschen das schlummernde Böse, das schicksalsartig erwacht und boxt sich brutal an die Macht (...)« Diese tausendfach wiederholte Geisterbahnfahrt (durch Knopps Hitler-Dokus zur Meisterschaft gebracht) und damit die Enthistorisierung der »zwölf Jahre« sind der Boden, auf dem die AfD ihren Geschichtsrevisionismus betreiben kann. Der Unterschied zwischen ihrem geschichtspolitischen Narrativ und dem etablierten ist eben nicht, dass der Nationalsozialismus ein Ausbruch kollektiven Wahnsinns gewesen sei, darin besteht zwischen den Knopps und Gaulands Einigkeit. Der Unterschied besteht in der klaren Verurteilung der NS-Verbrechen auf der einen und dem Versuch einer Relativierung auf AfD-Seite.

Linken sollte dies als geschichtspolitisches Unterscheidungsmerkmal nicht allein genügen. Wenn Gauland, der die »Leistungen« deutscher Landser würdigt und sich in die Tradition der Konservativen stellt, die vor 100 Jahren Novemberrevolution und Weimarer Republik von rechts bekämpften, den Nationalsozialismus relativiert, täten Linke gut daran, dem nicht nur mit Entsetzten, sondern auch mit einer eigenen kritischen Deutung der Geschichte entgegen- und damit aus der Anti-AfD-Volksfront herauszutreten. Denn »wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll über den Faschismus schweigen« (Horkheimer).

In den 1950er Jahren wurde in der Bundesrepublik mit der Frankfurter Schule und nach »’68« auch in den Geschichtswissenschaften ein solcher Versuch - wenigstens zum Teil - unternommen. Der neoliberale Umbau der Gesellschaft und der Niedergang der Linken hat seitdem, unter anderem an den Unis, Spuren hinterlassen. Eine »neue Klassenpolitik«, das zeigt die Debatte um Gaulands Rede, ist auch geschichtspolitisch geboten.

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