Im Begriff, »neues Ufer zu betreten«

Laurence Tardieu fragt in ihrem autobiographisch geprägten Text nach Wärme in einer Welt voller Unsicherheiten

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.

Introspektion einer Ich-Erzählerin, ohne dass es tatsächlich eine Geschichte zu erzählen gäbe: Oft sind es nur Beobachtungen, Gedanken, zarte, nachdenkliche Kommentare, komponiert in schönen Worten. Der Verlag spricht von tagebuchartigen Notizen, die die 1972 in Marseille geborene, in Paris lebende Schriftstellerin Laurence Tardieu in ihrem sehr französischen Roman »So laut die Stille« präsentiert. Es ist ein Text, geschrieben für den kontem-plativen Genuss, zum Weiterreichen, zum Mitlesen, weil die Autorin - so scheint es jedenfalls oft - ihrer Kreativität freien Lauf lassen möchte.

Französische Romane sind gern so. Und ziehen ihre Leser und Leserinnen damit auf eine eigene Weise in ihren Bann. Laurence Tardieu veröffentlichte bereits zehn Bücher und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Nach »Weil nichts bleibt, wie es ist«, ihrem bisher einzigen auch auf Deutsch erschienenen Werk, legt sie mit autobiographisch geprägten Texten nach. Sehr einfühlsam ins Deutsche übersetzt von Kirsten Gleinig, will das Büchlein dazu einladen, die 42-jährige Mutter einer Tochter durch ihre Schwangerschaft mit dem nächsten Kind zu begleiten.

Wobei zunächst nicht die Schwangerschaft im Zentrum steht. Denn es geht um die Terroranschläge, die 2015 und 2016 Frankreich erschütterten: Charlie Hebdo, später Bataclan, zuletzt Nizza. Laurence Tardieu berichtet aus der Perspektive der Vorstadt-Bourgeoisie, wie sich diese Vorfälle in ihr Leben eingraben: »Ich muss die Freude in mir wiederfinden seit den Anschlägen im Januar ist mir das Chaos der Welt unter die Haut gekrochen ... aber vielleicht hatte ich vorher nur geträumt vielleicht gab es auch vorher keine Welt als Ganzes vielleicht war das nur eine Illusion eine Täuschung trotzdem ist für mich die Welt am 7. Januar zersplittert und ihre Gewalt ist mir unter die Haut gekrochen giftig und still wie eine Schlange«, schreibt sie, ohne Punkt und Komma, andeutend, dass es eine emotionale Welle ist, die sie erfasst und die nicht enden will.

Eigentlich, so die fiktive Handlung, sitzt sie an einem neuen Buch, als das »Unvorhersehbare« in ihr Leben eindringt. Außerdem muss sie Abschied nehmen, vom Haus der Familie an der Côte d’Azur, das verkauft werden soll und an dem ihre Kindheitserinnerungen hängen: »La Cybèle war nicht nur der Ort einer Vergangenheit, deren Spur ich bewahren wollte. Sie war auch der Ort einer glücklichen Gegenwart.«

Kann es eine solche glückliche Gegenwart noch geben? Angesichts von Gewalt, Tod, Angst und kollektiver Traumatisierung? Es wäre möglich, so denke ich beim Lesen, wenn nicht auf allen Seiten Verlust drohte: Verlust des Lebens, Verlust der Kindheit, Verlust der Gewissheiten. Gleichzeitig entsteht in der Protagonistin dieser Geschichte neues Leben. Ihr Sohn wird geboren. Und mit ihm ein neuer Lebenszyklus, der - wie die Jahre in La Cybèle - von großer, familiärer, menschlicher Nähe geprägt ist: »Mein kleiner Junge, wen soll ich heute Morgen anschauen, wenn nicht dich, wo doch die Welt so kalt ist.«

Kann es Wärme in dieser kalten Welt geben? Diese Frage trägt Laurence Tardieu uns auf. Die Worte, ihre Worte, scheinen zu implizieren, dass die Kälte, die Trauer, die Angst obsiegen werden. Doch die Hoffnung schimmert, quasi existenzialistisch und ungesagt, zwischen den Zeilen hervor. Und schließlich realisiert sie auf den letzten Seiten, dass eine Reise zu Ende geht: »Ich bin im Begriff, neues Ufer zu betreten, ein Ufer, von dem ich nichts wusste, als ich anfing, diesen Text zu schreiben.« Mag sein, dass sich dort die scheinbar verlorene Freude wiederfindet. Mag sein. Vielleicht.

Laurence Tardieu: So laut die Stille. Roman. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. Edition fünf, Verlag Silke Weniger, 168 S., geb., 19 €.

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