»Und wenn ihr mir zehnmal den Mund verbietet«

Vor 90 Jahren starb der Berliner Schriftsteller und Journalist Josef Wiener-Braunsberg

  • Bettina Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

»Die Reaktion bringt dir Elend und Not, die Demokratie bringt dir Frieden und Brot. - Nun wähle!« Es war eine klare politische Botschaft, die Josef Wiener-Braunsberg in der Wochenbeilage »ULK« (»Unsinn, Leichtsinn, Kneipsinn«) des »Berliner Tageblatts« mehrmals zum Ausdruck brachte. Im April 1920 hatte er die Nachfolge von Kurt Tucholsky als Chefredakteur angetreten und führte die politische Linie des Blattes fort. Für die Leitgedichte im »ULK«, die jede Woche über 250 000 Leser erreichten, legte sich der 1866 im ostpreußischen Braunsberg als Josef Wiener geborene Sohn eines jüdischen Arztes das trügerische Pseudonym »Der Sanfte Heinrich« (zu jener Zeit eine Art Branntwein) zu und widmete sich fortan der literarischen Verarbeitung aktueller politischer Gegebenheiten. Dabei scheute er sich nicht, den politischen Gegner persönlich anzusprechen: »Sie leben noch, Herr Adolf Hitler, Sie Baldur aus dem Ungarland,/ Sie tapfrer Judenniederknittler, der Freiheit Hort und Unterpfand? Wie sprachen Sie doch, edler Krieger, von der Begeist’rung heiß durchloht? ›Der Morgen findet uns als Sieger, wenn nicht, so findet er uns tot!‹« (aus: »Der Schwur im ›Bürgerbräu‹«, 14. 12. 1923).

Oft warnte er - als überzeugter Anhänger der liberalen Deutschen Demokratischen Partei - vor den linksradikalen und rechtsextremen Parteien, dabei konnten seine Leitgedichte schon mal in eine satirische Abrechnung mit den vielfältigen Feinden der Demokratie münden: »Ich bin von Herkunft und rasserein, nicht so ein vermanschtes Rasseschwein, bewund’re mit Ehrfurcht, fremdstämmiger Wicht, mein arisches Wesen, mein arisch Gesicht! - Mein Urahn schon lag wohlgebaut, tagsüber am Rhein auf der Bärenhaut, und soff den Met, wie ich saufe den Sekt: auch er war korrekt, war enorm korrekt!« (aus: »Der Korrekte«, 7. 5. 1920; angelehnt an das Couplet »Immer korrekt« des Humoristen Otto Reutter). Den Mund verbieten ließ er sich selten (siehe die Überschrift dieses Artikels, ein Zitat Wieners aus »Den Pariser Helden«, 9. 3. 1923).

Zu den Folgen seiner verbalen Angriffe gehörten unter anderem unfreundliche Briefe von »angeekelten« Lesern, ein mehrmaliges »ULK«-Verbot im Ruhrgebiet während der Ruhrkrise 1923, mindestens eine Verleumdungsklage und Schmähungen durch die Nationalsozialisten. Sein Gedicht »Fasching«, eigentlich eine Satire auf die Künstlerszene, wurde von politischen Gegnern so lange verzerrt, bis daraus eine angebliche »Schändung nichtjüdischer Mädchen« wurde und man ihn deswegen am 30. April 1926 in dem völkischen Kampfblatt »Reichssturmfahne« anprangerte. Ein Jahr zuvor war er bereits wegen Beleidigung des Jenaer Professors Ludwig Plate zu einer Geldstrafe von 200 Goldmark verurteilt worden: »Esel schuf in jeglichem Formate, einst der Ew’ge, Rind und Schaf und Pferd, außerdem auch den Professor Plate, der Zoologie in Jena lehrt«, reimte er in der ersten Strophe über den antisemitischen Zoologen, in dessen Vorlesungen in den ersten vier Reihen nur »Arier« sitzen durften.

Begonnen hatte Josef Wiener, der eigentlich Buchhändler von Beruf war, mit Beiträgen in humoristischen Zeitschriften der Kaiserzeit. 1893 veröffentlichte er seinen ersten Roman »Almas Ende«, eine Fortsetzung von Hermann Sudermanns Schauspiel »Die Ehre«. 1899 zog er nach seiner Hochzeit mit Pauline Alder von Dresden nach Berlin. Innerhalb von fünf Jahren starben seine Mutter, seine Schwester Selma und sein Vater, ein Sanitätsrat. Das Familiengrab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin.

Für Josef Wiener-Braunsberg, wie er sich als Reminiszenz an seine Geburtsstadt nannte, brachte der »ULK« einen deutlichen Karriereschub. 1924 wurde sein Berlin-Roman »Warenhausmädchen« unter dem Titel »Die Kleine aus der Konfektion« unter anderem mit dem Stummfilmstar Reinhold Schünzel verfilmt, er las im Rundfunk aus seinen Werken vor, Vortragskünstler bedienten sich seiner Verse, die nun auch in Berliner Zeitschriften Eingang fanden (zum Beispiel »Berliner Leben«, »Der Junggeselle«). Dabei sah er den »Tanz auf dem Vulkan«, der nicht zuletzt auch in diesen Zeitschriften vor allem visuell zelebriert wurde, durchaus kritisch: »Hoppla! Lustig! Geigen schwirren! Pfropfen knallen! Schampus fließt! Nackte Schultern, Frauengirren! Heut’ ist heut’! Genießt! Genießt! Jazz-Getöse! Her und rüber tobt das trunkene Getoll, Großverdiener, Wucherer, Schieber schlagen sich die Wänste voll!« (»Schöne Zeiten!«, 2. 11. 1923).

1925 wurde er als Chefredakteur abgesetzt; der Grund dafür ist heute unbekannt. Die politischen Geschehnisse der vorangegangenen Jahre waren bei seiner sowieso angeschlagenen Gesundheit nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Am 8. Juni 1928 verstarb Wiener-Braunsberg im Schöneberger Auguste-Viktoria-Krankenhaus an den Folgen eines Hirnschlags. Drei Tage später fand nach der Einäscherung im Wilmersdorfer Krematorium eine bewegende Trauerfeier unter Anwesenheit vieler Freunde, Kollegen und Schauspielgrößen statt. Er hinterließ seine (zweite) Ehefrau Wanda und zwei Stiefkinder. Sieben Jahre nach seinem Tod wurden seine beiden Berlin-Romane »Warenhausmädchen« und »Die Venus von der Tauentzien« von der Reichsschrifttumskammer als »schädliches und unerwünschtes Schrifttum« klassifiziert, wodurch er während des Nationalsozialismus zu den verbotenen Autoren zählte und in Vergessenheit geriet.

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