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Der Typus Lumpenbourgeois
Nach ihrem Wahlsieg baut die Fidesz-Regierung in Ungarn ihre Macht auch dank der Medien immer weiter aus
Nach den Wahlen habe ich mehrere Wochen gewartet, diesen Artikel zu schreiben, bis die Trauer um die Einstellung der bürgerlich-liberalen Tageszeitung «Magyar Nemzet» abgeklungen ist. Unmittelbar danach wurde in mehreren Foren die Frage gestellt: Lässt sich ein finanzstarker Investor finden, der sich für das weitere Erscheinen der Zeitung einsetzt? Eine schwierige Frage, die aber leicht zu beantworten ist: Nein, weil das dazu notwendige bürgerliche Milieu nicht vorhanden ist. Also Menschen, die sich ihr Vermögen aus eigener Kraft und Talent geschaffen haben und die durch entsprechende Rechtssicherheit vor der Staatsmacht geschützt sind. Sie wachen dann mithilfe von transparenten Regeln darüber, dass in den Medien ein fairer Wettbewerb herrscht. Das ist das Fundament des Bürgertums. Weitere Voraussetzung für seine Unternehmungslust ist die existenzielle Sicherheit in einem Rechtsstaat. Diese Bürger sind dann gewillt in ihr Ideal zu investieren. Man liest nicht nur Zeitungen, mehr noch, man setzt sich für sie ein.
Diese klassische Mittelschicht ist im heutigen Ungarn am Absterben. Es gab sie früher, sie wurde aber von den Kriegen des 20. Jahrhunderts und vom darauffolgenden kommunistischen Regime weggeschwemmt. Nach der Wende 1990 begann nach kurzem Aufatmen die Fidesz-Ära. Statt das Fundament für ein breites Bürgertum zu legen, züchtete sie den sittenlosesten Typ von Lumpenbourgeois heran. Der kommt nicht durch Arbeit zu seinem Vermögen, ihm wird das Geld geschenkt. Statt es zu investieren, gibt er es aus oder hortet es für dubiose Machenschaften. Der Prototyp ist Lörinc Mészáros, Bürgermeister der Geburtsstadt von Viktor Orbán, heute der reichste Mann Ungarns. Böse Zungen nennen ihn nur den Strohmann Orbáns. Er ist kein Bürger, eher ein reich geschmückter Weihnachtsbaum.
Auf der Straße eine Zeitung zu kaufen und zu lesen, fällt solchen Oligarchen erst ein, wenn sie von oben den Auftrag bekommen, eine für die Regierung unbequeme Zeitung nur deshalb aufzukaufen, um sie später an Geschäftsleute weiterzuvermitteln, die dann anschließend diese Zeitung wegen angeblicher Unrentabilität schließen. So geschehen im Oktober 2016 mit «Népszabadság», der bis dahin meist gelesenen Tageszeitung Ungarns. Auch in der Provinz wechselten die meisten Presseorgane ihren Besitzer. Tags darauf erschienen sie alle mit dem gleichen aufgesetzten Grinsen von Viktor Orbán, was an den Einparteienstaat vor der Wende 1989/90 erinnert, als das Porträt vom Kommunistenführer János Kádár jede Zeitung schmückte - ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Das Festhalten an der Pressefreiheit ist in Ungarn durch das Fehlen der bürgerlichen Mittelschicht kaum noch möglich. Was davon noch sporadisch vorhanden ist, wird in Ungarn an der kurzen Leine gehalten. Die Bürger sollen keine Zeitungen lesen, die dem Ministerpräsidenten nicht gefallen. Über diese ferngesteuerten Bürger schreibt Péter Esterházy in seinem Buch «Einführung in die schöne Literatur»: «Sie wissen genau, wie viel, wohin, wo der Herrgott wohnt, auf welcher Seite die Türe aufgeht, und wo daran das Schloss ist».
Die Redakteure der soeben abgewickelten «Magyar Nemzet» erklärten, wie unerträglich der Druck der Regierung gewesen sei, der Staat hätte wegen ihrem oppositionellen Gedankengut überhaupt keine Anzeigen mehr geschaltet. Na ja … Solange der Besitzer, der Oligarch Lajos Simicska, ehemaliger Schulkamerad von Viktor Orbán, mit dem Regierungschef befreundet war, verhielt sich «Magyar Nemzet» regierungstreu. Sie bekam auch viel staatlich finanzierte Werbung. Vor drei Jahren aber gerieten sich die beiden in die Haare, Simicska hat Orbán öffentlich aufs Übelste beschimpft. Dann legte er seinen Redakteuren nahe, eine regierungskritische Rolle einzunehmen. Das erinnerte an die Parteiversammlungen vor der Wende, als der Genosse Direktor seine Mitarbeiter aufforderte: «Nur frei heraus damit, Genossen, bei uns ist Demokratie. Ihr habt dazu meine persönliche Erlaubnis!»
Statt Regierungen, Parteibonzen und dubiosen Oligarchen zu dienen, hätten die Presseleute sich gegenseitig beistehen sollen. Stattdessen sind sie aufeinander losgegangen. Gleich am Anfang hat man es versaut. Das ist bald 30 Jahre her. Von da an ging es mit den ungarischen Medien bergab. Also braucht man jetzt nicht ständig alles auf das Internet zu schieben. Auch in Wien gibt es Internet, und trotzdem erscheinen dort Tageszeitungen mit hohen Auflagen. Im gleich großen Budapest kämpfen ein Regierungsblatt, eine rechtsradikale und eine linksliberale Tageszeitung um die Gunst von insgesamt 25 000Lesern. Dass die liberale «Magyar Nemzet», Radio «Lánchid und die populäre »Népszabadság« nach ihrer Abwicklung keinen neuen Betreiber finden konnten, ist eindeutig dem Fehlen einer unternehmensfreundlichen Mittelschicht zuzuschreiben. Von ihr hätte man erwarten können, dass sie in diese Medien investiert. Allerdings ist das ohne ein autonom denkendes, bildungsnahes Bürgertums nicht möglich. Oft hört man, die Sozialisten hätten es vor 2010, als sie regierten, versäumt, ein eigenes Medienimperium aufzubauen. Die das behaupten, sind auf dem Holzweg. Die Entwicklung einer vielfältigen Medienszene kann nicht Aufgabe der jeweiligen Regierung sein. Mehr noch: Sie hat dort nichts zu suchen.
Manche rechten Journalisten, die früher in verschiedenen Diskussionen wider besseres Wissen behaupteten, die Fidesz würde mit ihren Medien das einheimische Bürgertum ansprechen, erfahren jetzt durch das allgemeine Desinteresse, dass diese Leserschaft in Ungarn nicht mehr vorhanden ist. Statt das kreative Bildungsbürgertum zu unterstützen, ist das Orbán-Regime dabei, eine dünne Oberschicht zu etablieren, die sich auf den lukrativen Abruf von EU-Fördermitteln spezialisiert. Davon lässt es sich gut leben. Ein Beispiel: Kürzlich hatte das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (kurz OLAF) festgestellt, dass alle Ausschreibungen für Modernisierungsprogramme für die öffentliche Beleuchtung in ungarischen Städten immer vor der gleichen Firma gewonnen werden. Ganz zufällig ist der Eigentümer dieser Firma der Schwiegersohn von Viktor Orbán.
Solche Leute kaufen keine Zeitungen, sie betätigen sich weder als Mäzen noch als Sponsor von Medien, und wenn doch, dann nur dort, wo ihnen die Regierung mit Schalten von Anzeigen behilflich ist.
Der Autor - nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Sprecher der Regierung von Viktor Orbán - ist seit 1993 Chefredakteur der liberalen ungarischen Wochenzeitung »Élet és Irodalom«. Seine Artikel wurden im deutschsprachigen Raum u. a. in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« sowie in österreichischen Zeitungen (»Die Presse«, »Der Standard«) veröffentlicht. Der vorliegende Text erscheint auf Deutsch exklusiv im »nd«. Die Übersetzung hat Gabor Szasz vorgenommen.
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