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Sehenswerte Abschaltimpulse

Der Debüt-Film »Polder - Tokyo Heidi« zeigt eine verstörende Computerspiel-Dystopie

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Würgegriff des Kommerzes, in dem das Fernsehen spätestens durchs duale System steckt, drückt sich nicht nur durch dramaturgische Banalisierung aus; noch besser beschreibt ihn das englische Lehnwort Audience Flow. Ob die Zuschauer während oder nach einer Sendung in messbarer Zahl den Kanal wechseln, sagt nämlich einiges aus über die Massenbindungskraft eines Kanals, also über seine Hauptwährung: Quoten! Dass ein Film wie »Polder« um 0.35 Uhr im Nachtprogramm läuft, ist daher auch mit der erwarteten Publikumswanderung zu erklären.

Liefe das Erstlingswerk von Samuel Schwarz nämlich, nur so ein Gedankenspiel, nicht als FilmDebüt, sondern als Mittwochsfilm im Ersten, spätestens zehn Minuten nach dem Start um 20.15 Uhr hätten geschätzt fünf von sechs Primetime-Besucher wohl abgeschaltet. Und zwar zu recht! Denn »Tokyo Heidi«, so lautet der Untertitel, wird zu Beginn nicht nur volle zehn Minuten lang - im synchronisationssüchtigen Deutschland die Todsünde - untertitelt; der schwer verständliche Text in metallisch knisterndem Japanisch untermalt zudem eine wackelige Überwachungskamerasequenz von so sperriger Optik, dass selbst Cineasten ein dickes Fell brauchen, um am Ball zu bleiben.

Klingt jetzt nicht grad verlockend, oder? Stimmt! Wer es wiederum bis zur allerersten sprachlich zu verstehenden Szene dieses Kuriositätenkabinetts der Internet-Ära schafft, wird mit etwas echt Außergewöhnlichem belohnt: Fernsehen, wie es hierzulande praktisch nie und nirgendwo zu sehen ist. Marcus (Christoph Bach), Topentwickler des Softwarekonzerns Neuroo-X, gerät dabei in ein selbst programmiertes Rechner-Rollenspiel, das die Grenzen zwischen Virtualität und Wirklichkeit praktisch unsichtbar macht. Gefangen in dieser digitalen Scheinrealität, beginnt für Marcus und seine Frau Ryuko (Nina Fog) ein Kampf gegen das eigene Produkt, den er bald mit dem Leben bezahlt. Hinter der Vermarktung stehen schließlich enorme Profitinteressen. Fiktion braucht Feinde. Altes TV-Gesetz.

Was genau jedoch der Realität entspringt und was nicht, wann Marcus aus menschlichem Gewebe und wann aus binären Codes besteht, ob hier überhaupt irgendetwas echt ist - das ist von Beginn an ebenso unklar wie die leibhaftige Existenz sämtlicher Protagonisten bis hin zum gemeinsamen Sohn von Ryuko und Marcus, Walterli (Pascal Roelofse), Avatar-Name Tokyo Heidi, ein greifbares Kunstwesen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität. Untermalt vom mal endzeitlich sägendem, mal cineastisch geschmeidigem Soundtrack von Michael Sauter, entwirft Samuel Schwarz gemeinsam mit seinem Ko-Autor Julian M. Grünthal damit exakt jene Zukunftsvision, die im Zuge der Debatte um Virtual Reality und Künstliche Intelligenz zurzeit heftig polarisiert.

Ist die anstehende Automatisierung sämtlicher Lebenswelten bis ins Intimste von Sexualität und Gedanken nun Utopie oder Dystopie, Fluch oder Segen? Die Antwort von »Tokyo Heidi« ist da eindeutig: Alles, wirklich alles, was mit dem inkriminierten Computerspiel in Zusammenhang steht, ist furchtbar. Nirgends gibt es Erlösung. Und die Tech-Konzerne nehmen den Untergang der Zivilisation nicht nur in Kauf, sie forcieren ihn mit fiesem Blick und - in diesem Fall - schweizerischem Akzent nach Kräften. Dieser sorgsam ausgestattete Technikskeptizismus ist ein bisschen zu eindimensional und macht den Film ungeachtet seiner ästhetischen Wucht ein bisschen zu pädagogisch für so viel Radikalität. Sehenswert ist er trotzdem.

ARD, 0.35 Uhr

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