Das Leben als Versuchsanordnung
In seinem Roman »Die kommenden Jahre« inszeniert Norbert Gstrein das hybride Spiel mit den Möglichkeiten
Auf den ersten Blick und vordergründig scheint alles klar und wohlgeordnet zu sein im Leben Richards, des Ich-Erzählers, der mit schriftstellernder Frau Natascha und Töchterchen Fanny gut situiert in Hamburg lebt. Er selbst ist Geologe, in seiner Profession anerkannter Gletscherforscher, und demzufolge häufiger auch auf Reisen und zu Vorträgen unterwegs. Die Geschichte setzt auch in New York ein, wohin Richard ein halbes Jahr vor der Trump-Wahl zu einer Tagung gereist ist und wo er seinen alten Freund und Kollegen Tim wiedersieht, der ihm von den Möglichkeiten eines (nicht nur wissenschaftlichen) Neubeginns in Kanada vorschwärmt.
Zurück in Deutschland, konfrontiert ihn seine Frau mit ihren Presseaktivitäten, die sie rund um die Unterbringung einer irakischen Familie - Vater, Mutter und zwei pubertierende Söhne - in ihrem Ferienhaus auf dem Land entfaltet hat. Denn es hat den Anschein, als würden rechte Jugendliche die Flüchtlinge aus der Kleinstadt vertreiben wollen. Während Richard die ganze Angelegenheit nicht recht ernst nehmen kann, steigert sich seine Frau in eine überall lauernde Xenophobie hinein. Dann verschwinden auf einmal sechs Jugendliche, unter ihnen die beiden irakischen Jungen, und man findet sie schließlich in einem Baumhaus gefesselt wieder. Übergriffe rechter Jugendbanden? Oder bloß ein Scherz?
Das ist nur ein Beispiel in Gstreins Roman für eine Kippfigur, ein Vexierbild, von denen der Text bis zum Ende in immer rascherer Folge lebt. Was ist was? Und wer ist eigentlich wer? Zweifel kommen Richard, ob der friedlich-freundliche Herr Farhi, der sich sogar einmal wöchentlich mit einem katholischen Geistlichen trifft, um sich für die Konversion vorzubereiten, tatsächlich ein Ingenieur ist oder nicht doch vielmehr ein früherer irakischer Sicherheitsoffizier mit mächtig viel Dreck am Stecken.
Die Zweifel, einmal gesät, nagen weiter an ihm: bohrende Fragen, ob er selbst überhaupt im richtigen Leben an der Seite der richtigen Frau steckt, ob er nicht doch das Angebot seiner alten mexikanischen Freundin und Kollegin annehmen sollte, mit ihr ein neues Leben zu beginnen, irgendwo neu anzufangen, als Fremder neue Möglichkeiten zu ergreifen. Am Ende des Romans lässt Gstrein seinen Protagonisten verschiedene Möglichkeiten durchspielen, und er bietet zwei Versionen an, in denen Richard seiner Heimat den Rücken kehrt und in den USA und Kanada ohne Familie als Wissenschaftler weitermacht.
Doch ist das erst der vorletzte Akt, denn im letzten Kapitel, »Was wirklich geschah«, erhält Richard den Anruf mit dringender Bitte um Rückmeldung: Herr Farhi nämlich habe mit einer Pistole, Richards Pistole, die er seit Kindertagen aufbewahrt hatte und unter sicherem Verschluss glaubte, wild in eine Gruppe Jugendlicher geschossen. Noch am selben Tag fliegt er zurück nach Hamburg. Schluss. Aus. Ende.
Wie sieht es nun aber aus mit den verschiedenen Möglichkeiten im menschlichen Leben? Wie viele gibt es überhaupt? Und was soll man von der Stelle halten, an der Richard das Buch »Nobody is ever missing« auf dem Nachttisch seiner Frau findet: »Ich hatte darin geblättert und war auf eine Stelle gestoßen, die mir seither nicht mehr aus dem Sinn ging. Dort sagte ein Mann zu seiner Frau, was Natascha zu mir gesagt hatte: ›You have two options‹, und wenn ich mich richtig erinnerte, erwiderte sie ihm oder ging ihr darauf jedenfalls der Satz ›Husband, you don’t know how many options I have‹ durch den Kopf, den ich jetzt, sicher und unsicher zugleich, wie ein Schauspieler meines eigenen Lebens wiederholte, selbst wenn ich mir ganz und gar nicht gewiss war, ob er auch stimmte.«
Das Leben als Versuchsanordnung - der Roman als Inszenierung eines hybriden Spiels mit den Möglichkeiten, bis der Alltag dann mit seiner brutalen Macht wieder Einzug hält. Das ist es, was Norbert Gstreins Roman meisterhaft zu zeigen versteht. Und nein: Aufgeklärt wird gar nichts!
Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman. Hanser, 288 S., geb., 22 €.
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