- Kultur
- ZDF-Reihe »Auf der Flucht«
Die Namen der Flüchtlinge
In der Reihe »Auf der Flucht« zeigt das ZDF die beeindruckende Doku »Als Paul über das Meer kam«
Flüchtlinge sind in der öffentlichen Wahrnehmung meist weder Individuen noch leibhaftige Menschen mit Gesichtern, sondern meist nackte Zahlen. Fast 1,1 Millionen Asylsuchende haben Deutschland vor drei Jahren erreicht, bevor der Wert 2016 auf 321.361 und 2017 auf 186.644 wiederum spürbar sank. Die Menschen hinter derlei Statistiken haben in der Regel keine Namen, sondern höchstens Registrierungsnummern. Auch ein gut gelaunter, hochintelligenter, selbstreflexiver Mann aus Kamerun, der zum Auftakt einer vierteiligen ZDF-Reihe auf den Kontinent der Hoffnung aufbricht, ist zunächst nur ein Geflüchteter unter vielen.
Dann aber trifft ihn der deutsche Regisseur Jakob Preuss am Rande Nordafrikas und fragt, wie dieser Einzelfall im breiten Strom der Zahlen denn heißt. Seine Antwort lautet: Paul Nkamani. »Ob er mich ausgewählt hat oder ich ihn«, das weiß der Filmemacher aus Berlin zu Beginn einer 95-minütigen Fluchtbegleitung selber nicht so recht. »Aber wie auch immer«, sagt er sich und uns aus dem Off, »das ist die Geschichte unserer Begegnung.« Sie beginnt auf einem turmhohen Zaun, der das marokkanische Kernland von der spanischen Exklave trennt und damit den wachsenden Gegensatz von Arm und Reich, Wollen und Haben, Leben und Tod, Anspruch und Wirklichkeit unserer Zivilisation.
Wie verwehte Blätter hängen Dutzende von Elendsgestalten auf dem gewaltigen Grenzgatter, während wenige Meter entfernt einige Luxustouristen Golf spielen. Hier das satte Grün des Überflusses, da das grau Braun des Mangels: Jakob Preuss hätte keinen imposanteren Auftakt seiner Dokumentation darüber wählen können, was für die einen den Untergang des Abendlands markiert, für andere hingegen eine praktische Prüfung all unserer Werte bedeutet. Ihr Titel lautet »Als Paul über das Meer kam«, und schon der Untertitel »Tagebuch einer Begegnung« deutet an, dass die journalistische Grundregel einer strikten Trennung von Berichterstatter und Berichtsgegenstand hier aufgehoben wird.
Denn Jakob begleitet Paul nicht nur vom marokkanischen Auffanglager übers spanische Festland in die ostdeutsche Provinz; er wird vom Chronisten zum Akteur und greift so ein, dass der Flüchtling am Ende nicht nur neben dem Reporter im Auto sitzt, sondern bei dessen Eltern am Esstisch. Nüchtern betrachtet sind die 95 Minuten zurückhaltend orchestrierter, zutiefst bewegender Reportage folglich ein Bruch diverser Berufsprinzipien. Davon abgesehen jedoch bilden sie ein Manifest der Menschlichkeit in zunehmend wieder unmenschlicher Zeit.
Auf Festivals gefeiert, nähert sich der Film dem »Megathema« der Migration nämlich nicht melodramatisch wie manch ein Fernsehspiel, aber auch nicht betont distanziert wie im politischen Journalismus üblich. Preuss ist einfach hautnah dabei, wenn Flucht und Vertreibung ihren Gang gehen. Er filmt Flüchtlinge, die alle Schuld für Afrikas Leid verbittert auf Europa schieben, und solche, die Verständnis für dessen Abschottung haben. Er filmt Grenzschützer, denen es angeblich nur um die Sicherheit der Menschen geht, und solche, die diesem Anspruch auch Taten folgen lassen. Er filmt Sozialarbeiter, die Paul jede Hoffnung auf Asyl nehmen, und Betroffene, denen nicht einmal das die Zuversicht verhagelt. Er ist einfach spürbar präsent und öffnet dank seiner Mehrsprachigkeit und einer seltenen Form reservierter Empathie Türen, Menschen, Herzen.
Davon ist aus Sicht von ZDF-Redaktionsleiterin Claudia Tronnier die ganze Flucht-Reihe geprägt. Auch deren Spielfilme »Implosion«, »Geschwister« und »Die Flucht« zeigen ja ab diesem Montag, »was für ein Glück es ist, nicht allein unterwegs zu sein« auf dem Weg ins Unbekannte. Obwohl dieser Weg selbst in Begleitung qualvoll und hart ist, rufen die vier Beiträge allerdings nicht zur Flucht auf. Sie suchen nach Verständnis für alle, die ihn gehen. Pauls Gesicht, sein Name, das greifbare Schicksal machen es uns da ein bisschen leichter.
ZDF, 23.55 Uhr
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