Richtlinienkompetenz, Minister-Verantwortung und Koalitionsausschüsse
Die Kanzlerin hat das Sagen - zumindest theoretisch, denn es gibt noch andere Mechanismen
Das Grundgesetz sichert der Bundeskanzlerin innerhalb der Regierung eine starke Stellung zu. Sie ernennt ihre Minister und bestimmt laut Grundgesetz »die Richtlinien der Politik«. Dieses Vorrecht geht einher mit einer besonderen Legitimation und Verantwortung: Nur die Kanzlerin wird vom Parlament gewählt und ist ihm rechenschaftspflichtig.
Die Geschäftsordnung der Bundesregierung greift diesen Tenor auf und wird noch deutlicher. Die Kanzlerrichtlinien sind »für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen«, wie es dort heißt. Einen eigenen Ermessensspielraum haben sie dabei nicht. »In Zweifelsfällen« entscheidet allein die Bundeskanzlerin.
Darüber hinaus dürfen öffentliche Äußerungen von Ministern den Richtlinien nicht widersprechen. Sollten die Minister nicht einverstanden sein, müssen sie der Kanzlerin laut Geschäftsordnung »unter Angabe der Gründe« Mitteilung machen und ihre Entscheidung »erbitten«.
Ministerielle Eigenverantwortung
Allerdings konstruierten die Verfasser des Grundgesetzes das Prinzip der Richtlinienkompetenz in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Eigenverantwortung der Minister. Diese führen ihren Bereich eben »selbständig und unter eigener Verantwortung«, heißt es in Verfassung und Geschäftsordnung. Dort ist auch festgehalten, dass die Regierung »über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet« und alle Beschlüsse gemeinsam fasst.
Auch wenn an der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin auf dem Papier kein Weg vorbeiführt, ist die Sache aus diesen und anderen Gründen also in der politischen Praxis weniger eindeutig. So wird in der CSU auch im aktuellen Konflikt um die Frage der Zurückweisung von Flüchtlingen die Meinung vertreten, dies sei nur eine Detailfrage behördlichen Handelns, falle somit in den Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums und berühre nicht die Richtlinienkompetenz.
Machtzentrum Koalitionsausschuss
Dieses Argument wird allerdings von Verfassungsrechtlern ebenso wie Vertretern der CDU generell als wenig überzeugend angesehen. Sie verweisen auf die zentrale Bedeutung des Flüchtlingsthemas für die gesamte Bundespolitik und die potenziell weitreichenden Folgen von nationalen Alleingängen der Bundesrepublik für die Zukunft der Europäischen Union.
Entscheidend eingeschränkt wird die Richtlinienkompetenz generell aber von ganz anderer Seite - durch die Tatsache, dass Kanzler im bundesdeutschen System parlamentarischer Demokratie ihre Macht und ihr Amt allein aus der Unterstützung der sie tragenden Parteien ableiten. Sie müssen daher auf deren Positionen hören. Erheblich verstärkt wird dieser Koordinierungsaufwand darüber hinaus durch den Umstand, dass in Deutschland Koalitionen die Regel sind. Das führt dazu, dass die wahren Entscheidungszentren der Politik in den sogenannten Koalitionsausschüssen zu finden sind, in denen die Spitzen der Bündnisparteien miteinander verhandeln. Dort zählt die verfassungsrechtliche Definition der Machthierarchie zwischen Kanzlerin und Ministern wenig, denn dort treffen Parteipolitiker nach ganz anderen Spielregeln aufeinander, um Kompromisse auszuhandeln.
Vor diesem Hintergrund sei die Anwendung der Richtlinienkompetenz bei Meinungsverschiedenheiten »nicht lebenswirklich«, sagte etwa 2005 der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. »Wer das macht in einer Koalition, der weiß, dass die Koalition zu Ende ist.« AFP/nd
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