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Konjunktive um Hugo Haase

Können sich SPD und Linkspartei über ihre Geschichtsbilder annähern? Ein Ortstermin

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Was wäre passiert, wenn 1914 die SPD standgehalten und den Kriegskrediten nicht zugestimmt hätte? Wie hätte sich dann die französische Schwester verhalten? Hätte der Erste Weltkrieg überhaupt - und wenn ja: in gleicher Rücksichtslosigkeit - geführt werden können? Hätte sich die deutsche Führung dann auch veranlasst gesehen, Lenin nach St. Petersburg zu expedieren? Hätte sich die Linke in Deutschland, bis 1914 die stärkste des Kontinents, dann auch gespalten? Hätte nicht die Geschichte ganz Europas im 20. Jahrhundert ganz anders verlaufen können? Und wäre es nicht auch eine Chance gewesen, wenn sich die SPD wenigstens 1916 vom Kriegskurs abgewandt hätte - wie es ihre wachsende Minderheit wollte? Hätte sich der Krieg dann nicht ganz anders beenden lassen, und hätte die Sozialdemokratie einen Nachkriegsstaat dann nicht ganz anders bestimmen können?

Bekanntlich gibt es Geschichte nicht im Konjunktiv. Doch treiben solche Fragen Antje Vollmer hörbar um: Ihre Stimme klingt emotional, als sie vorliest, was stattdessen geschah: Als der tragische Hugo Haase, der 1914 als SPD-Fraktionschef die Kriegsentscheidung gegen seine Überzeugung verlesen hatte und sich später der Parteiopposition zuwandte, im März 1916 gegen weitere Kriegskredite im Reichstag spricht, kommt es zu Tumulten. Nach den Erinnerungen des Abgeordneten Peter Hansen brüllt Philipp Scheidemann: »Drecksseele!« und ruft Friedrich Ebert: »Schamloser Kerl, schamloser Halunke!« Der liberale Abgeordnete Julius Kopsch greift, wie so oft, zu antisemitischen Beleidigungen, während der Sozialdemokrat Wilhelm Keil mit dem Ruf »Verräter, Verräter!« auf Haase losstürzt und handgreiflich zu werden droht. Hernach ist die Spaltungsdynamik in der SPD nicht mehr aufzuhalten.

Die langjährige Grünen-Politikerin, von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, zitiert das aus einem Sammelband, den vorzustellen sie am Dienstag an den Franz-Mehring-Platz in Berlin gekommen ist. Bemerkenswert daran ist die Kombination aus dessen Inhalt, seinen Herausgebern und dem Ort der Veranstaltung. Das Buch mit dem Titel »Weltkrieg, Spaltung, Revolution - Sozialdemokratie 1916 -1922« befasst sich mit Persönlichkeiten, die in verschiedenster Weise in den Spaltungsprozessen zwischen Mehrheits- und Unabhängiger Sozialdemokratie, Spartakus, KPD und so weiter lavierten. Die Herausgeber sind mit Uli Schöler und Thilo Scholle zwar linke Sozialdemokraten, aber keine Randfiguren: Schöler ist Vorsitzender der Bundeskanzler Willy-Brandt-Stiftung und Abteilungsleiter in der Bundestagsverwaltung, Scholle arbeitet in einem Landesministerium sowie bei der »Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wissenschaft«. Und der Ort der Präsentation des von der Friedrich-Ebert-Stiftung finanzierten Bandes ist der Salon derjenigen parteinahen Stiftung, die den Namen von Eberts schärfster Gegnerin in diesen Jahren trägt: Rosa Luxemburg.

In diesem Umfeld gewinnt die gut besuchte Veranstaltung einen metapolitischen Charakter, den Schöler unverblümt anspricht: Geschichte überhaupt, besonders aber die von Parteien, werde zu sehr vom Ende her geschrieben. Bis heute neigten gerade die Geschichtsbilder der Erbinnen jener Spaltung zur vergewissernden Polarisierung, zur »Nivellierung« des »Dazwischen« und dazu, das Geschehene retrospektiv für unausweichlich zu halten. Das aber sei nicht nur historisch fragwürdig, sagt Schöler, der auch in der Historischen Kommission der SPD schon mitgearbeitet hat, sondern zudem »politisch falsch«. Und nicht nur einer Ergänzung der Geschichtsbilder, sondern auch politischem Lernen aus dem »Dazwischen« solle der Band dienen.

Was ist nun das Nivellierte, das neu vergegenwärtigt werden soll? Die Veranstaltung gerät zu einer Hommage an Hugo Haase und die USPD. Die bis zu seiner Ermordung im Herbst 1919 von Haase geführte Minderheitssozialdemokratie, die nach 1916 schnell wuchs und 1920 bei der Reichstagswahl 18 Prozent erreichte, dann aber bis 1922 zwischen KPD und Mehrheitssozialdemokratie zerrieben wurde und schließlich bis 1931 als Splitterpartei bestand, findet gewöhnlich wenig Beachtung. Sie gilt als instabiles Intermezzo und wird in Wissenschaft wie Publizistik zumeist nur hinsichtlich ihres Zerfalls thematisiert, der oft als unvermeidlich gilt. Im Luxemburg-Salon aber stehen stattdessen wieder diese Konjunktive im Raum: Was, wenn Haase nicht ermordet worden wäre? Was, wenn die USPD den massiven Druck von rechts wie links nicht nur ausgehalten, sondern sich aus dieser Mittelposition zum Ausgangspunkt einer neuen Einheit entwickelt hätte? Was wäre dann aus den Ansätzen eines radikalen Reformismus geworden, die es in der Partei von Eduard Bernstein und Karl Kautsky gegeben habe?

Antje Vollmer spricht den Subtext dann irgendwann aus: »Die große historische Niederlage der Linken im 20. Jahrhundert war, dass sie nicht den Weg der USPD gegangen ist.« Und Vollmer ist es auch, die dann sehr offen auf die politische Aktualisierung blicken lässt, die sich aus dieser Neubeleuchtung des Gestern ergeben könnte. Sie nimmt sogar das Reizwort »Sammlungsbewegung« in den Mund - mit drei Bestimmungen: Gesammelt werden müsse in einer solchen Distanz zu den Parteien, dass kein Verdacht auf Spaltungs- oder Neugründungsambitionen entstehen könne. Es müssten interne Solidarität und Toleranz in einem ganz neuen Maße geübt werden. Unveräußerliches Merkmal einer solchen Sammlung aber müsse eine radikale Friedenspolitik sein.

Ob sie damit eine konkrete Bestrebung meint - etwa diejenige um die Berliner SPD-Politikerin Cansel Kiziltepe, deren mögliches Verhältnis zu derjenigen um Sahra Wagenknecht noch unklar ist -, ob sie nur ins Allgemeine spricht oder womöglich eine eigene Initiative im Hinterkopf hat, all das bleibt offen. Deutlich wird nur die Einladung, in der Befassung mit dem Gestern ein neues Heute zu suchen, zumindest zwischen Rot und Rot. Grüne sind nämlich, von Vollmer selbst abgesehen, augenscheinlich nicht im Saal.

Können diese Konjunktive um Haase - sein Name fällt in jedem zweiten Satz auf dem Podium - tatsächlich eine neue Konjunktion befördern? Die Historische Kommission der Linkspartei ist zwar im Saal vertreten, sagt in der Diskussion aber nichts. Und als Moderator Dietmar Lange von der Zeitschrift »Arbeit - Bewegung - Geschichte« etwas genauer wissen will, was etwa USPD-Konzepte einer Sozialisierung der Wirtschaft heute bedeuten könnten, scheinen die Grenzen einer Annäherung über das Gestern auf: Sammelband-Mitherausgeber Thilo Scholle, einstiger Juso-Vorstand, tritt wie instinktiv auf die Bremse und katapultiert den Saal ins schnöde Heute: Ein »Schlag nach in 1918« könne es nicht geben, auch keine »gerade rote Linie«. Der USPD habe der Sinn für das Machbare gefehlt. Man müsse schon sehen, dass sich »die Welt weiterentwickelt hat«.

Das tönt dann schon vertrauter in seiner vielsagenden Vagheit, vielleicht gerade deshalb, weil niemand dergleichen gefordert hatte. Routinen des Argwohns sind Teil des Problems. Doch scheint am Ende des Abends die alte Phrase, es sei gut gewesen, geredet zu haben, irgendwie weniger abgeschmackt als sonst.

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