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- Wahl in der Türkei
Vorläufige Ergebnisse bergen großes Konfliktpotenzial
Erdogan laut Regierungszahlen bereits in der ersten Runde zum Präsidenten gewählt / Unabhängig Wahlbeobachtergruppe ermittelt stark abweichende Abstimmungsergebnisse
Nach einem unfairen Wahlkampf und Repressionen gegen die Opposition heißt das vorläufige Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in der Türkei das Recep Tayyip Erdogan alter und neuer Präsident des Landes ist. Die Regierungsergebnisse zur Wahl, die von Unregelmäßigkeiten und einem harten Vorgehen gegen Wahlbeobachter der Opposition gekennzeichnet war, weichen stark von den Zahlen unabhängiger Wahlbeobachter ab.
Update 20:30 Uhr: Vorläufige Ergebnisse bergen großes Konfliktpotenzial
Die ersten vorläufigen Ergebnisse der staatlichen Nachrichtenagentur AA und der unabhängigen Wahlbeobachtergruppe Adil Secim weichen sehr stark voneinander ab. So siegt laut AA bei der Präsidentschaftswahl Recep Tayyip Erdogan mit 52,8 Prozent, während Muharrem Ince auf 30,7 Prozent der Stimmen kommt. Meral Aksener liegt bei 7,4 Prozent und Selahattin Demirtas kommt auf 8,0 Prozent der Stimmen. Bei Adil Secim sind die Zahlen folgende: Erdogan 44 Prozent, Ince 34 Prozent, Aksener 13 Prozent, Demirtas 7 Prozent.
Für die Parlamentswahl kommt laut AA das Regierungslager aus AKP und MHP auf 53,8 Prozent, die Oppositionsliste um CHP und IYI auf 34,1 Prozent und die linke HDP überwindet knapp die Zehn-Prozent-Hürde mit 12,1 Prozent. Die Angaben bei Adil Secim sind auch hier völlig anders: AKP 44 Prozent, MHP 13 Prozent, CHP 23 Prozent, IYI 11 Prozent und die HDP 8 Prozent.
Wenn schlussendlich die Angaben der AA zum offiziellen Wahlergebnis deklariert werden, würde Erdogan bereits in der ersten Runde zum Präsidenten gewählt und das Regierungslager hätte eine satte Mehrheit im Parlament. Die Opposition hätte dann keine Möglichkeiten, über das Parlament das weitere Vorgehen von Erdogan zu blockieren. Es ist kaum anzunehmen, dass die Opposition ein solches Ergebnis akzeptieren wird.
Auf welche Wege die Opposition setzen kann, um ein solches offizielles Wahlergebnis zu revidieren, ist derzeit noch nicht absehbar. Die so stark divergierenden Wahlergebnisse bergen aber ein sehr großes Konfliktpotenzial und könnten gewaltsame Auseinandersetzungen auslösen.
Update 14 Uhr: Festnahmen und Gewalt gegen Wahlbeobachter
Die Arbeit der unabhängigen WahlbeobachterInnen wird weiter erschwert. Die türkische staatliche Nachrichtenagentur AA meldet, dass 10 ausländische WahlbeobachterInnen festgenommen wurden, darunter 3 deutsche Staatsbürger. Eine Wahlbeobachterdelegation aus Köln und Bonn wurde in Cizre von der dortigen Polizei festgesetzt und kann sich nicht
mehr frei bewegen.
Eine weitere Delegation, diesmal aus Berlin, wurde ebenfalls an der Wahlbeobachtung gehindert und musste ihre Arbeit einstellen. Inländische WahlbeobachterInnen müssen neben Behinderungen und Festnahmen auch mit tätlichen Angriffen und offener Gewalt rechnen.
So wurden mehrere oppositionelle Beobachter in Urfa verletzt. Ein Opfer sprach davon, dass man gerade noch mit dem Leben davon gekommen sei. In Suruc wurden oppositionelle WahlhelferInnen von den schwer bewaffneten Bodyguards der lokalen AKP-Kandidaten drangsaliert und WählerInnen genötigt, geschlossen für Erdogan und seine AKP zu stimmen. Aber auch aus den westlichen Teilen der Türkei kommen Berichte über
Einschüchterungsversuche gegenüber den WählerInnen und Wahlfälschungen.
Wahltag beginnt mit Behinderung von Wahlbeobachtern
Neben über 600.000 Wahlbeobachtern der Opposition wollen auch Bürgeraktivisten mögliche Wahlfälschung dokumentieren. Einige ausländische WahlbeobachterInnen wurden zuvor an der Einreise gehindert, darunter Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei. Am Wahltag selbst kommen Meldungen aus Diyarbakir und Urfa, dass Wahlhelfer, die den Oppositionsparteien angehören, an ihrer Arbeit gehindert und zum Teil durch AKP-Mitglieder ersetzt wurden. An anderen Wahllokalen tauchten erste fragwürdige Stimmabgaben auf, so etwa durch Personen, die nicht in den Wählerlisten registriert sind.
Die Opposition ruft ihre Anhänger auf, soweit es geht die Wahllokale nicht unbeobachtet zu lassen, damit Wahlfälschungen möglichst wenig auftreten. Auch nach der Stimmabgabe sollen die Menschen sich an den Wahllokalen aufhalten, um auffällige Ereignisse zu melden und gegebenenfalls zu unterbinden. Erste Ergebnisse werden nicht vor 18:00 Uhr erwartet.
Bei den Wahlen werden sowohl die Abgeordneten des Parlaments neu bestimmt als auch der zukünftige Präsident des Landes. Erhält Erdoğan bei der Präsidentenwahl in der ersten Runde nicht 50 Prozent plus eine Stimme, muss er am 8. Juli in eine Stichwahl. Die Wahl ist auch wichtig, weil anschließend das autokratische Präsidialsystem vollends in Kraft tritt, dass bei einem Volksentscheid im April 2017 mit knapper Mehrheit gebilligt worden war.
Wirtschaftsthemen dominierten zuletzt den Wahlkampf
Im Wahlkampf ging es zuletzt viel um ökonomische Themen wie die hohe Inflation im Land und den Kursverfall der türkischen Lira, der seit Jahresbeginn 18 Prozent gegenüber dem Euro an Wert verloren hat. Um eine erneute Präsidentschaft Erdoğans zu verhindern, hat sich ein Teil der Opposition zusammengeschlossen – die kemalistisch-säkulare CHP, die rechtskonservative IYI-Partei sowie die islamistische Saadet-Partei haben das Wahlbündnis »Nationale Allianz« gebildet. Das war nach einer Reform der Wahlgesetze durch Erdoğan möglich, die Wahllisten erlaubte.
Die kurdische und linke HDP, nicht Mitglied der »Nationalen Allianz«, hofft trotz Behinderungen der Wahl im kurdischen Südosten des Landes etwa durch Verlegung von Wahllokalen wieder über die Zehn-Prozent-Hürde zu kommen und damit erneut im Parlament vertreten zu sein. Laut den meisten Umfragen dürfte dieses gelingen. Selahattin Demirtas, Präsidentschaftskandidat der HDP, musste seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus führen.
Bei einer möglichen Stichwahl könnten die Kurden das Zünglein an der Waage sein. Viele von ihnen werden am 8. Juli voraussichtlich den Mitte-links Kandidaten Muharrem İnce von der CHP wählen – er wird vermutlich in die Stichwahl kommen.
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