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Auch der Lippenstift kämpfte
Nachruf auf eine tapfere Frau: Felicia Langer - jüdische Anwältin der Palästinenser
Innerhalb eines Charakters ist der Wille frei. Sagte der von den Nazis ermordete Dichter Erich Mühsam. Es ist jene Freiheit, die nachträgliche Rechtfertigungen politischen Versagens frühzeitig verhindert. Es gibt ja immer Entschuldigungen: die weltpolitische Lage; das System (es ist immer das System!); und, weil schließlich jeder Mensch durchkommen will, sind da vor allem die Anpassungszwänge. Zwänge, gewiss verständlich, aber sie sollten niemals ohne den Verweis auf die Veranlagung des Einzelnen zur Willfährigkeit angeführt werden. Innerhalb eines Charakters sei der Wille frei? Kein Satz fürs Nachher, sondern immer für das, was jetzt ist. Mut im Nachhinein ist oft nur Beginn neuer Anpassung.
Im Jahre 1993 erhielt Felicia Langer den Preis, der nach Erich Mühsam benannt ist. Die israelische Anwältin, die über zwanzig Jahre lang Palästinenser gegen die israelische Besatzungspolitik verteidigte: Sie war frei aus Charakterkraft. Sie hat für gelebte Entschiedenheit erfahren, was Beleidigung ist, Verachtung, Demütigung - sie galt, weil sie Israels Politik attackierte, als Nestbeschmutzerin, als »jüdische Antisemitin«. Indes: Sie konnte nicht anders. Der Charakter. Der aus Konsequenz die Folgen nicht bedenkt. So etwas kann einsam machen - aber eine ganze Welt tragen.
»Um Hoffnung kämpfen« heißt eines ihrer zahlreichen Bücher. Darin der Satz: »In allen palästinensischen Kindern sehe ich meinen Sohn Michael.« 1930 wird sie in Polen geboren. Die jüdische Familie flieht vor den Nazis in die Sowjetunion. Nach dem Tod ihres Vaters emigriert Felicia Langer 1950 nach Israel. Sie studiert Jura, nach dem sogenannten Sechs-Tage-Krieg 1967 lässt sie sich als Rechtsanwältin in Jerusalem nieder. Wird die erste und eine beträchtliche Zeit lang die Einzige sein, die sich für verfolgte, verurteilte Menschen in den besetzten Gebieten einsetzt. 1990 schließt sie ihr Anwaltsbüro - um nicht länger als Alibi für ein korruptes Rechtssystem zu gelten. Sie gibt auf - und macht doch weiter, als Autorin, als unermüdliche Vortragsreisende für die Würde des palästinensischen Volkes. 1990, im Jahr ihrer Übersiedlung nach Tübingen, an ihrem 60. Geburtstag, wird sie mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt.
Diese zierlich Robuste, diese zäh Zarte, die übrigens mit dem einstigen erzmilitanten Ministerpräsidenten Ariel Sharon gemeinsam studierte: Sie war keine Kämpferin der trojanischen Pferde, sie stürmte offen. Stets wirkte sie, als habe sie sich selbst jede Genehmigung zur Ruhe entzogen, und dies ein für allemal. Eine Friedensbewegte, eine Bürgerrechtlerin - mit dem Stoizismus des Wassertropfens, der ohn’ Unterlass nur immer die eine Stelle bearbeitet. Sie sprach regierungskritischen Israelis Mut zu, sie wehrte sich aber auch gegen jene taktische Instrumentalisierung deutscher Schuld, einzig betrieben, um Kritik an Israels Palästinenser-Politik zu entschärfen. Wer sich zu ihr bekannte, hatte schon Stellung bezogen: Es gibt in manchen Situationen nur ein Entweder-oder, kein Sowohl-als-auch. Diese Frau stand im Krieg - den sie bekämpfte.
Wo sie hinging, zielstrebig, war Frieden kein Zustand, sondern Ziel. Wo sie aushielt, und zwar ebenso zielstrebig, musste man für Sanftmut, Friedfertigkeit erst kämpfen; und immer steht ja die Frage, wie viel Sanftmut, Friedfertigkeit man bei so einem Kampf noch selber in sich tragen darf. Man sehe sich frühere Fotos an, wie Felicia Langer in Jerusalem im Gericht steht, wie sie gegen einen starrenden männlichen Militärprotz alle Schönheit, allen modischen Charme, alles Weibliche, alle Kultur von glänzendem Lack und rotem Lippenstift aufbringt, immer wieder und immer neu gegen die Verzweiflung, gegen den juristischen Staatsterror der Verdrehungen, Abwiegelungen, Vertuschungen. Sie wollte dem Zorn nicht das gestatten, was Brecht so beklagte: die Verzerrung der Züge.
Überspitzt könnte man sagen: Es war schwer, sich mit dieser Frau über etwas anderes zu unterhalten als über die tiefe Ungerechtigkeit, unter der Palästinenser in Israel zu leiden haben. Das musste in allem mitgedacht werden, was sie sagte und erzählte, bis hinein in die beiläufigsten Bemerkungen. Das musste bis ins Familiäre und Private hinein ganz selbstverständlich mitgefühlt werden. Das kleine Arbeitszimmer in Tübingen: Der Hochhausblick ging über viel Grün, die Wohnung war auch ein kleines Museum. In den Bücherregalen, an den Wänden zahlreiche Geschenke von Mandanten. Im Gefängnis gefertigte Andenken; provisorisch, aber liebevoll geschnitzt, geschnitten, gemalt. Souvenirs von Orten strafender Langeweile und lastender Isolation; Bastelarbeit der Häftlinge, gegen den Stumpfsinn der Zeit, und als Dank für die Anwältin. Die in Israel so oft in die verhasste Wüste fahren musste, »dort lagen die verdreckten, verdammten Militärgefängnisse, in so gnadenloser Natur, die für Hitze, Durst, Abgeschiedenheit sorgte und in meinen Augen den Folterern zuarbeitete. Es ist Unsinn, der Natur das anzudichten, aber ich konnte mich nicht gegen diesen Eindruck wehren.«
Felicia Langers Leben war nicht denkbar ohne ihren Mann Mieciu, der 2015 verstarb. Es gehört zu den bitteren Absurditäten des Daseins, dass es den Weg in die Tragödien mit Fröhlichkeit und Ahnungslosigkeit »pflastert«: Als die ersten deutschen Bomben jenseits der Weichsel fielen, befand sich der Junge in Krakow »in Hochstimmung, weil etwas Außergewöhnliches passierte; ich presste mich an die Fensterscheibe, bis mich meine Mutter von dort verjagte«. Die Kinder aßen bald aus der Feldküche der deutschen Besatzer. Bis den ersten Juden die Bärte und die Schläfenlocken abgeschnitten wurden. Das, was für den kleinen Mieciu »geheimnisvoll neuartig« war, wurde ihm zur Hölle. Fünf Konzentrationslager.
Jeder Mensch, jede Gemeinschaft, jede Generation muss wahrscheinlich die Erfahrung der ersten Christen wiederholen - die Rückkehr des Heilands findet nicht statt, das große Versprechen wird nicht eingelöst, Lebenszeit und Kampfzeit bleiben in wesentlichem Maße Zeiten der Ent-Täuschungen. Aber das ist kein Widerruf, sondern die eigentliche Offenbarung: Heil trifft nicht ein, sondern ist eben »nur« unterwegs. Die Entzauberung von Friedens-Hoffnungen ist auch heute, mehr denn je, eine weltweite Realität, aber die politischen Spannungen, den Druck der Urfehden lebbar zu halten, es bleibt der schönste Glaube. Aller Kirchen - und ihrer Ketzer. Felicia Langer hat die Oslo-Abkommen kritisiert, weil diese Vereinbarungen nur einen Scheinfrieden skizzierten. Vehement stritt sie gegen Tel Avivs aggressive Siedlungspolitik - ohne das Existenzrecht Israels in den Grenzen von 1967 je anzuzweifeln. Sie war drängend, unnachgiebig in dem, was man eine Stoßrichtung nennt.
Sie gehörte zu den Menschen, die Ungebrochenheit durchhalten und das Echo ertragen. Beschimpfung und Bedrohung, als sie in Israel lebte; Beschimpfung, Bedrohung, als sie das Bundesverdienstkreuz erhielt. Aber dass sie es erhielt: Auch das ist Deutschland! Langer führte ein Leben der fortdauernd unabgeschlossenen Verfahren: Auch Tübingen liegt nahe Jerusalem oder Gaza. Sie verkörperte ein Insistieren, wie es der Dichter Peter Handke an den Tag legte - in seinem Widerstand gegen die gängigen Vorurteile über die Schuldigen und die Opfer in den Kriegen um Jugoslawien. Die Araber als Opfer von Kolonialismus und Imperialismus, die Juden als Opfer von Massenmord und Vertreibung - die Kriege zwischen zwei geschichtsdeformierten Opfern sind wahrscheinlich die schlimmsten, unglücklichsten.
Palästinas gerechter Menschenrechtskampf und der Hamas-Terror. Israels Grundangst und seine maßlose Militanz. Das Nichtheilwerdenkönnen der Welt auf engstem Raum. Die böse Erblast des Antisemitismus, der mitunter auch nach links sickert. Vernunft ist wie die Unvernunft etwas, das ständig die Seiten wechselt. Alles lässt nach, nur die Unentwirrbarkeit nicht, nicht die Vertracktheit der Lage, nicht die Unbarmherzigkeit aus Angriff, Anwurf - und Elend. Israel hat starke Partner, Palästina oft nicht mal verständige Zuhörer. Da wird man, sagt das Leben der Felicia Langer, süchtig nach Solidarität. Und sucht sich Waffen. Charakter ist eine Waffe. Für ein Handeln, das aus dem Versteck tritt, »in die Wirklichkeit, wo sie ihre größte schmerzende Kraft entfaltet« (Volker Braun). Nur so kommt eine Ethik in die Welt, die nicht zur Ideologie taugt und die auch nicht dazu verkommt. Weil es eine Ethik des einzelnen Menschen bleibt, dem zu helfen sei. Und der hilft, damit aus Einem Viele werden. Nun ist die tapfere Felicia Langer im Alter von 87 Jahren in Tübingen gestorben.
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