Der Videobeweis - ein neuer WM-Star
95 Prozent der überprüften Entscheidungen während der Gruppenphase wurden auf dem Rasen richtig getroffen
Der ehemalige Weltklasseschiedsrichter Pierluigi Collina aus Italien blieb erstaunlich nüchtern in seinen Erläuterungen. Womöglich war dem Chef der Schiedsrichterkommission der FIFA gar nicht klar, dass er hier gerade eine Weltpremiere moderierte. Erstmals legte der Weltverband anhand von Aufzeichnungen offen, wie genau die Kommunikation zwischen den Video Assistent Referees (VAR) und ihrem hauptverantwortlichen Kollegen auf dem Platz klingt - das war beeindruckend.
Man spürte den Stress in der Stimme des Schiedsrichters, der oft außer Atem ist und schwer bewegt von den Emotionen im Stadion und unter den Spielern. Demgegenüber steht die Klarheit der Aussagen der Videoassistenten. Sichtbar wurde der Prozess der Entscheidungsfindung, das Tempo, in dem sich die Meinungen verfestigen. Collina feierte den Videobeweis bei dieser WM als großen Erfolg. »Wir sind nicht überrascht, dass die Dinge ziemlich gut gelaufen sind«, erklärte der Italiener zufrieden und präsentierte erstaunliche Zahlen.
Genau 95 Prozent der insgesamt 335 von den VAR überprüften Entscheidungen während der Gruppenphase seien spontan von den Kollegen auf dem Rasen richtig beurteilt worden. 14 Mal wurde berichtigend eingegriffen, womit sich die Quote der korrekten Entscheidungen um 4,3 auf 99,3 Prozent erhöhte. »Das ist nahe an der Perfektion«, sagte Collina. Offensichtlich wurden aus Sicht der FIFA nur zwei im Spielfluss fehlerhaft bewertete Szenen trotz Überprüfung nicht korrigiert. Welche beiden das waren, wollte Collina auf Nachfrage nicht erläutern, vermutlich, um die verantwortlichen VAR zu schützen. Dennoch war diese Veranstaltung ein großartiges Beispiel für die Transparenz, die das Regelgremium IFAB schon bei der Einführung des Videobeweises zu einem grundlegenden Erfolgskriterium erklärt hat, die - nebenbei bemerkt - das deutsche Schiedsrichterwesen nie wirklich hinbekommen hat.
Es gab in der gesamten Gruppenphase nur eine einzige rote Karte. »Die Spieler wissen jetzt, dass die Kameras benutzt werden, und deshalb gab es keine Tätlichkeit bisher«, erläuterte Collina. Allen Skeptikern, die beklagen, dass das Spiel durch den VAR zerstückelt werde, hielt er entgegen, dass die Nettospielzeit sich gegenüber dem WM-Turnier vor vier Jahren von 55 Minuten und 24 Sekunden auf 56 Minuten und 45 Sekunden erhöht habe. Die Analyse dieser Vorrunde lieferte etliche Argumente, die Vorbehalte der Kritiker der Technik entkräften.
Im Durchschnitt war der Ball genau 38 Sekunden nicht im Spiel, weil Videoüberprüfungen durchgeführt werden mussten. Zum Vergleich: Einwürfe raubten durchschnittlich sieben Minuten und 42 Sekunden Nettospielzeit, Auswechslungen drei Minuten und 24 Sekunden und Ecken drei Minuten und elf Sekunden. Die Klage, man könne sich nicht mehr freuen, weil jedes Tor erst vom VAR überprüft werden müsse, war bei diesem Turnier bisher noch gar nicht zu hören. Mit dieser guten Umsetzung haben auch die Spieler das System mit großem Wohlwollen aufgenommen. Es wird weniger protestiert, Rudelbildungen werden seltener.
Nur ein großes Problem bleibt: die Bewertung des Handspiels. Das liegt allerdings nicht am Videobeweis, sondern an der Regel, die besagt, dass nur absichtliche Handspiele zu sanktionieren sind. Leider lässt die Frage der Absicht große Interpretationsspielräume, wobei die Handszene des Argentiniers Marco Rojo gegen Nigeria im Strafraum, die für viel Ärger sorgte, explizit von Collina aufgegriffen wurde. Der Ball springe von Rojos Kopf gegen seinen Arm, und wenn ein Ball in der Dynamik des Spiels vom eigenen Körperteil komme, könne keine Absicht vorliegen, so Collina. Eine schlüssige Auslegungsvorgabe, die übrigens in Deutschland nur halbherzig umgesetzt wird.
Wobei noch andere Details von der FIFA anders vorgesehen sind, als sie in der Bundesliga umgesetzt wurden. Zeitlupen seien oftmals untauglich, um Zweikämpfe zu bewerten, weil die Dynamik der Bewegungen verloren gehe, erklärte Collina. In Deutschland urteilen die VAR dennoch fast immer anhand von verlangsamten Bildern, zum Beispiel im Pokalfinale, als Javier Martinez von Bayern München vom Frankfurter Kevin Prince-Boateng elfmeterwürdig getroffen wurde.
Bei dieser WM habe man in der Gruppenphase dagegen »keinen einzigen Skandal« gehabt, »der für den Fußball relevant ist«, so Collina am Ende seines beeindruckenden Referats. Unter den deutschen Reportern, die Collinas Argumenten gelauscht hatten, stellte sich danach eine unbeantwortete Frage: Warum nur verharrt das DFB-Schiedsrichterwesen in seinem seltsamen Mikrokosmos der Furchtsamkeit und Intransparenz?
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