- Politik
- Generaldebatte des Bundestags
»Sie hätten auch Jesus abgeschoben«
In der Generaldebatte des Bundestags streiten Koalition und Opposition über die Asylpläne der Unionsparteien
Das Statement von Andrea Nahles hätte kaum kürzer sein können. Auf der Fraktionsebene des Bundestags teilt die SPD-Chefin den wartenden Journalisten am Mittwochmorgen nur mit, dass ihre Partei geschlossene Lager für Geflüchtete und nationale Alleingänge in der Asylpolitik ablehne. Zudem müsse es rechtsstaatliche Verfahren geben. »Darüber werden wir mit der Union am Donnerstag weiter beraten«, erklärt Nahles. Dann ist ein weiteres Treffen des Koalitionsausschusses geplant, bei dem über den Kompromiss von CDU und CSU diskutiert wird.
Sogleich entschwindet Nahles. Denn nun beginnt die Generaldebatte des Bundestags zum Haushalt der Großen Koalition, der am Donnerstag verabschiedet werden soll. In dieser Diskussion werden traditionell nicht nur haushaltspolitische Themen angesprochen. Die Generaldebatte wird von der Opposition genutzt, um grundsätzlich mit der Politik der Koalition abzurechnen. Die Regierungsparteien rechtfertigen hingegen ihr Handeln in den vergangenen Wochen und Monaten.
Kanzlerin Angela Merkel hält weitgehend eine Regierungserklärung zu den Beschlüssen des EU-Gipfels in der vergangenen Woche. Die CDU-Chefin lobt die Zusammenarbeit mit brutal vorgehenden Warlords, die von ihr als »libysche Küstenwache« bezeichnet werden, bei der Flüchtlingsabwehr. Im Rahmen der EU-Mission »Sophia« werde mehr Kraft darauf verwendet, »die Küstenwache aufzubauen und zu trainieren«.
Große Anerkennung verdient nach ihrer Ansicht außerdem der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan. Zwar habe sie auch viel an der türkischen Politik zu kritisieren. »Aber was die Türkei für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge leistet, ist ein Riesenbeitrag«, so die Kanzlerin. Dass Ankara selber ein Aggressor im syrischen Krieg ist und eine Mitverantwortung für Flucht und Vertreibung trägt, erwähnt sie nicht.
Gegen Menschen, die Geflüchteten helfen, teilt Merkel hingegen kräftig aus. »Das internationale Recht muss eingehalten werden«, verlangt die Regierungschefin. Das erwarte sie auch von Nichtregierungsorganisationen im Mittelmeer. Sie bezieht sich dabei offenbar auf das deutsche Rettungsschiff »Lifeline«. Malta wirft dessen Kapitän Claus-Peter Reisch vor, bei der Flüchtlingsrettung gegen behördliche Anweisungen und internationales Recht verstoßen zu haben. Zur Bekämpfung der Fluchtursachen schwebt Merkel ein »Pakt für Afrika« vor. Auf Details geht sie aber nicht ein.
Als Merkel wieder auf der Regierungsbank Platz genommen hat, kann sie noch einen Moment den freundlichen, aber nicht gerade enthusiastischen Beifall aus den Reihen der Koalitionspartner genießen. Richtig wach werden viele Abgeordnete aber erst beim nächsten Redner. FDP-Chef Christian Lindner schwingt sich überraschend zum Anwalt der SPD auf. Den Kompromiss von CDU und CSU, der Transitzentren für Schutzsuchende an der deutschen Grenze vorsieht, die bereits in einem anderen Staat der EU registriert wurden und dort einen Asylantrag gestellt haben, bezeichnet Lindner als einen »Bruch des Koalitionsvertrags«. Er erinnert daran, dass die SPD im Jahr 2015 noch ähnliche Forderungen der Union abgelehnt hatte. »CDU und CSU haben sich zulasten der SPD geeinigt«, konstatiert Lindner. Nun müssten sich die Sozialdemokraten entscheiden, ob die Regierungskrise weitergeht oder sie sich der Union anschließen werden. »Das ist kein fairer Umgang mit der SPD«, erklärt der FDP-Mann.
Die Erheiterung im Plenarsaal ist bei vielen Abgeordneten groß. Vereinzelt ist Gelächter zu hören. Ein Raunen geht durch den Saal. Andrea Nahles hebt abwehrend die Hände in Richtung Lindner. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble läutet mit seiner Glocke. Als es etwas ruhiger geworden ist, weist der CDU-Politiker darauf hin, dass Lindner wie alle anderen Abgeordneten das Recht habe, dass ihm der Bundestag zuhöre.
Als Nahles selber an das Rednerpult tritt, geht sie nicht auf ihren Vorredner ein. Sie verteidigt stattdessen wild gestikulierend die Regierungspolitik der SPD. In der Asylpolitik gelten für sie »Humanität und Realismus«, sagt Nahles. Aus ihrer Sicht hat sich seit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags mit der Union im März keine neue Sachlage in der Flüchtlingspolitik ergeben. »Wer darüber hinausgehende Vorschläge hat, muss diese vorstellen, begründen und mit dem Koalitionspartner abstimmen.« Man sei nun am Beginn eines solchen Abstimmungsprozesses.
Politiker der Union haben bereits betont, der SPD bei der Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes entgegenkommen zu wollen. Im Gegenzug könnten die Sozialdemokraten einer verschärften Asylpolitik zustimmen.
Die LINKE fürchtet nach einer schwarz-roten Einigung weitere Verschlechterungen für Geflüchtete. Fraktionschef Dietmar Bartsch wirft Merkel und ihrem Innenminister Horst Seehofer vor, Lager für Schutzsuchende und eine Militarisierung der europäischen Außengrenzen zu planen. »Das sind menschenverachtende Maßnahmen«, kritisiert Bartsch. Die CSU habe sich von christlichen Werten verabschiedet. »Sie hätten doch auch mit einem Lächeln Jesus abgeschoben«, sagt er. Zudem schaffe die Koalition neue Fluchtursachen. In diesem Zusammenhang nennt der Linksfraktionschef die Waffenexporte in Krisengebiete und eine unfaire Handelspolitik.
Dass Seehofer nach dem Streit mit Merkel noch Minister ist, nennt Bartsch lächelnd ein Geburtstagsgeschenk. Seehofer ist gerade 69 Jahre alt geworden. »Wenn Sie nächstes Jahr 70 werden, dann werden Sie hier nicht mehr sitzen«, prophezeit Bartsch. Derweil verfolgt Seehofer die Debatte ohne größere Gefühlsregungen auf der Regierungsbank.
Auch Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter warnt vor »Inhaftierungslagern« für Asylbewerber. Das habe mit europäischen Werten wie Solidarität, Humanität und Rechtsstaatlichkeit nur noch wenig zu tun, erklärt Hofreiter. »Das ist ein Dammbruch der Unmenschlichkeit, was sie da organisieren.«
Ein wenig Lob erhält Seehofer lediglich von der AfD. Alexander Gauland, Chef der rechten Partei, bezeichnet den Kompromiss der Union als »kleinen Schritt in die richtige Richtung«. Die AfD werde der Union »weiter kräftig unter die Arme greifen, damit weitere Schritte folgen«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.