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Reifeprüfung für die Lehrlinge

Sind die Franzosen noch zu jung für den WM-Titel? Das Viertelfinalduell gegen Uruguay sollte diese Frage beantworten

  • Maik Rosner, Nischni Nowgorod
  • Lesedauer: 4 Min.

Seine Lieblingsthese hat Didier Deschamps schon vor der WM formuliert. Auch nach den bisherigen Erfolgen wie dem furiosen 4:3 gegen Argentinien im Achtelfinale wiederholt er sie fast täglich. Eigentlich sei seine französische Mannschaft zu jung, sagt der Trainer. Zu unerfahren und erst in zwei bis vier Jahren zur vollen Schaffenskraft gereift. Als »Lehrlinge« bezeichnet der Welt- und Europameister von 1998 und 2000 seine Spieler sogar. Deschamps, 49 und seit 2012 im Amt, sagt: »Die Hälfte meiner Spieler hat noch keine WM gespielt. Diese Erfahrung fehlt uns, andere Mannschaften wie Brasilien sind uns in dem Punkt voraus. Darin sehe ich ein Problem.«

Sollten die lernenden Franzosen allerdings an diesem Freitag in Nischni Nowgorod das WM-Viertelfinale gegen die kompakte und sehr erfahrene Einheit aus Uruguay für sich entscheiden und damit erstmals seit 2006 ins Halbfinale einziehen, müsste Deschamps seine These wohl langsam überdenken oder zumindest bis auf Weiteres unter Verschluss halten. Denn dann wären es nur noch zwei Schritte bis zum Titelgewinn, den er seiner Mannschaft eigentlich noch gar nicht zutraut. Zumindest vor dieser anstehenden Reifeprüfung.

Es ist wohl einerseits wirklich seine Überzeugung, dass dieses Turnier noch zu früh kommt, um mit dem zweiten WM-Titel der Geschichte nach Frankreich heimzukehren. Seine Mannschaft weist in der Tat den jüngsten Altersdurchschnitt (26,1 Jahre) aller Viertelfinalisten auf, auch wenn sie nur um ein paar Tage grüner ist als die englische (ebenfalls 26,1). Unter allen 32 Mannschaften war die Équipe Tricolore die zweitjüngste, knapp hinter Nigeria (25,9).

Andererseits zeugen die bisherigen Auftritte durchaus von einer gewissen Reife, die Anlass zu mehr Optimismus geben könnte, den Deschamps aber vielleicht aus pädagogischen und psychologischen Erwägungen nicht zeigen möchte. Seine Lehrlinge sollen möglichst keinen zusätzlichen Erwartungsdruck aufgebürdet bekommen. Die Zwischenbilanz jedoch liest sich wie jene übergeordnete Bewertung, die Verbandschef Noël Le Graët schon vor der WM über den erfolgreichsten Nationaltrainer in der Geschichte Frankreichs vornahm: »Deschamps ist einer, dem alles gelingt. Unter ihm sind wir wieder eine Fußballnation geworden. Er arbeitet viel und gut, und ›Les Bleus‹ machen kontinuierlich Fortschritte.«

Nicht berauschend, aber kontrolliert erwarb der EM-Zweite von 2016 in Russland die Zulassung fürs Achtelfinale, durch die Siege gegen Australien (2:1), Peru (1:0) und das 0:0 gegen Dänemark mit einer B-Elf. Gegen Argentinien wirkte es dann, als habe das junge Team nur darauf gewartet, wie eine Naturgewalt über den zweimaligen Weltmeister hereinzubrechen, der es gewagt hatte, die Schleusen in der Defensive ein bisschen zu öffnen.

Das ist von Uruguay kaum zu erwarten, zumal Stürmer Edinson Cavani wegen eines Wadenödems auszufallen droht und damit Uruguays Schwerpunkt noch mehr auf der Defensive liegen dürfte als ohnehin. Bereits jetzt stellen die Südamerikaner jene Mannschaft, die als einzige neben Belgien alle vier WM-Spiele nach 90 Minuten gewinnen konnte und zudem als einzige neben Brasilien erst ein Gegentor hinnehmen musste. »Sie werden versuchen, uns ihr Spiel aufzuzwingen«, ahnt Frankreichs Stürmer Antoine Griezmann. »Da müssen wir ruhig bleiben und ihre Abwehr öffnen.«

Wie knifflig das trotz des schnellen Kylian Mbappé wird, weiß Griezmann aus erster Hand. In seinem Verein Atlético Madrid trug Uruguays Innenverteidigerduo Diego Godín - nebenbei Patenonkel von Griezmanns Tochter - und José Giménez maßgeblich dazu bei, dass man die Liga vor dem Stadtrivalen Real Madrid auf Platz zwei und mit der mit Abstand besten Defensive abschloss (nur 22 Gegentore in 38 Spielen). Erschwerend kommt hinzu, dass Frankreich auf seinen erfahrenen Mittelfeldspieler Blaise Matuidi wegen einer Gelbsperre verzichten muss und dafür womöglich auf Corentin Tolisso, 22, vom FC Bayern setzt. Und ebenso, dass die Franzosen bevorzugt mit rasanten Gegenstößen angreifen, statt selbst das Spiel zu machen. Von Uruguay, ebenso auf Konter spezialisiert, werden sie aber wohl die Rolle der Gestalter zugeschoben bekommen.

Bei dieser Versuchsanordnung wird sich zeigen, ob Deschamps’ junge Mannschaft wirklich schon über genug Reife verfügt. Die Statistik spricht jedenfalls gegen sie: Den Franzosen gelang gegen Uruguay in acht Duellen bislang nur ein Sieg - und keiner in vier Versuchen bei großen Turnieren. Diese Negativserie haben allerdings die Vorgänger der aktuellen Équipe Tricolore zu verantworten. Die Älteren.

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