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  • England bei der WM

Aus Apathie wird Euphorie

Im Fußball-Mutterland England träumt man vom zweiten WM-Titel nach 52 Jahren

  • Jörg Soldwisch, Samara
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf roten Doppeldeckerbussen wurde getanzt, in den Pubs floss das Bier in Strömen, die Borough High Street im Herzen Londons war von freudetrunkenen Fans blockiert, die sich alle sicher waren: »It’s coming home. Football’s coming home!« Nach Englands Einzug ins WM-Halbfinale hat sich im Fußball-Mutterland der jahrelange Verdruss über die »Three Lions« endgültig in überschäumende Euphorie gewandelt.

»Zu Hause steigt bestimmt eine große Party«, sagte Teammanager Gareth Southgate schmunzelnd nach dem 2:0 in der Runde der letzten Acht gegen Schweden. Southgate und seine unerschrockene Rasselbande haben in Russland bereits mehr erreicht als das erste WM-Halbfinale seit 28 Jahren, das sie am Mittwoch gegen Kroatien bestreiten werden. »Das Team, das immer mehr zu einem Objekt von Zynismus und Apathie geworden war, hat die Herzen des ganzen Landes zurückerobert«, schrieb die »Daily Mail« und nannte den erstaunlichen Weg der jungen Mannschaft um Kapitän Harry Kane einen »Marsch in die Unsterblichkeit«. Sogar das Königshaus meldete sich zu Wort. »Ihr wolltet Geschichte schreiben, und ihr habt es bereits getan. Ihr spielt eine unglaubliche WM, und wir genießen jede Minute davon«, twitterte Prinz William. »Ihr verdient diesen Moment - Football’s coming home!«

Der zweite WM-Titel, 52 Jahre nach dem legendären Triumph im Wembley gegen Deutschland, ist plötzlich keine Illusion mehr. »Wir fühlen uns gut, wir sind zuversichtlich«, sagte Kane. »Wir wollen das Land stolz machen.« Dieser Auftrag ist bereits erfüllt. Die vom Streit um den »Brexit« tief gespaltenen Engländer sind im Fußball wieder vereint.

Noch vor vier Jahren hatten sich die »Three Lions« nach dem historischen WM-Vorrundenaus in Brasilien kaum nach Hause zurück gewagt. Nicht nur der »Telegraph« hatte mit den »Versagern« abgerechnet: »Gedemütigt, vernichtet, beerdigt - ein hoffnungsloser Fall.« Jetzt dürften Kane und Co. bei ihrer Ankunft in gut einer Woche wie Staatsmänner empfangen werden.

Die Situation erinnert an den deutschen Fußball bei der Heim-WM 2006, als verkrustete Strukturen aufgebrochen, neue Ideen eingebracht und mit aufstrebenden Spielern und einem dynamischen Spielstil die Fans begeistert wurden. Southgate ist nun Ähnliches gelungen. Der frühere U21-Trainer hat aus Klubrivalen einen verschworenen Haufen gemacht: Plötzlich kämpft jeder für den anderen. Die Mannschaft spielt zudem Ballbesitzfußball mit punktuellem Einsatz von Kick-and-Rush. Er ließ das Elfmeterschießen durch ein Forschungsteam analysieren: Plötzlich gewinnen die Engländer Spiele vom Punkt. Er lässt in fast jeder Einheit Standards trainieren: Acht von elf englischen WM-Treffern fielen nach einem ruhenden Ball.

Auch die Personalentscheidungen sitzen. Southgate vertraut auf den vorher unbekannten Jordan Pickford - und auf einmal gewinnt ein Torwart (!) für England Spiele. Der 24-Jährige sei »der Prototyp« eines modernen Torwarts, sagt Southgate über den beweglichen und kommandostarken Schlussmann des FC Everton, der gegen Schweden mehrfach glänzte - auch mit dem Ball am Fuß.

Southgate setzt auch auf »junge Wilde«: Im Viertelfinale wurde Harry Maguire zum Torschützen und »Giganten« (Southgate). Der 25-Jährige hatte die Nationalmannschaft bei der EM vor zwei Jahren noch als Fan begleitet. Dele Alli ist mit 22 Jahren und 87 Tagen nun der zweitjüngste Torschütze Englands der WM-Historie.

Alli, Maguire, Pickford, Kane und viele andere im Turnierkader waren noch nicht einmal geboren, als England 1990 das letzte Mal ein WM-Halbfinale bestritt, bei dem man erst im Elfmeterschießen gegen Deutschland scheiterte. »Wir können unsere eigene Geschichte schreiben«, sagt Pickford. SID/nd

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