Werbung

Alles paletti, oder nicht?

Russlands Bürgern hat die WM auch Negatives gebracht, nur haben sie das kaum bemerkt

  • Ute Weinmann, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.

Reisen erweitert den Horizont. Diese Erkenntnis stammt aus Zeiten, in denen es noch keine Fußballweltmeisterschaft als Anlass brauchte, um sich auf fremdes Territorium vorzuwagen. Aber es steht ohne Zweifel, dass das Sportevent Russland einen rasanten Anstieg der Besucherzahlen beschert hat. Moskau zog schon vor dem Endspiel Bilanz. Von drei Millionen Touristen, die sich seit dem ersten Anpfiff mehr als einen Tag in der Hauptstadt aufgehalten haben, stammen 1,2 Millionen aus dem fernen Ausland, wie es immer noch heißt. Also nicht aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Damit liegt deren Quote derzeit um das Dreifache über der Monatsnorm. Spitzenreiter sind die Chinesen, gefolgt von US-amerikanischen Staatsbürgern. An dritter Stelle liegen Reisefreudige aus Deutschland.

Wer sich auf den für WM-Touristen vorgesehenen Pfaden bewegt hat, dürfte angenehm überrascht gewesen sein. Nicht zuletzt wegen der unbegründeten Negativberichterstattung im Vorfeld. Sehenswürdigkeiten gibt es in Russland ohne Ende, billigen Alkohol auch, aber vor allem sind die WM-Austragungsstädte keine Dienstleistungswüsten. In Bars und auf der Straße tobte der Bär, oft in internationaler Konstellation. Damit der Spaßcharakter nicht leidet, ließen Polizei und Behörden vier Wochen lang Nachlässigkeit walten. Gleichzeitig hielten sie russische Fußball-Hooligans fest im Griff.

Fans aus Japan und Senegal wurden für ihre vorbildlichen Aufräumaktionen im Stadion gelobt, bis die ersten Bilder russischer Fans mit Müllbeuteln beim Saubermachen auftauchten. Ein Moskauer prügelte sich für mexikanische Fans mit einem Taxifahrer, der ihnen 100 Euro für eine kurze Fahrt abgeknöpft hatte. Aus dem gleichen Grund strandeten acht Fans der Senegaler Nationalelf mit ihren letzten paar Groschen vor dem Belorussischen Bahnhof, bis ein Blogger sich ihrer annahm. Eine städtische Obdachlosenunterkunft setzte die Afrikaner auf die Straße. Nach einem breitgestreuten Aufruf fand sich ein in Russland lebender Türke, der ihnen bis zur Abreise Kost und Logis auf seinem großzügigen Anwesen gewährte.

Also alles paletti? Ach ja, da war noch die Sache mit dem Demonstrationsverbot während der WM. Und vielleicht hat der eine oder die andere vom Hungerstreik des von der Krim stammenden Regisseurs Oleg Senzow gehört, der die Freilassung 64 ukrainischer Häftlinge aus russischen Gefängnissen fordert. Aber die Nachricht wäre wohl eher Schlagzeilen wert gewesen, hätte sich die russische Führung während der WM zu einem Entgegenkommen durchringen können.

Die lässt die Zeit des grassierenden Fußballfiebers indes nicht ungenutzt verstreichen. Seit Mitte Juni treffen Regierung und Parlament eine unpopuläre Entscheidung nach der anderen: Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Gebühren für einen Reisepass oder bei Bestellungen über das Internet im Ausland und die Einführung der Steuerpflicht für Freischaffende. Anonymes Surfen soll zudem mit weiteren Strafen erschwert werden. Die Verschärfung der ohnehin strengen Melderegelungen für ausländische Staatsbürger sorgt derweil bei korrupten Angehörigen der zuständigen Polizeibehörde für neue Verdienstmöglichkeiten.

Angereiste Fans wird das alles wenig interessieren. Russland macht aus Sicht so mancher internationaler Institution zudem vieles richtig. Wo der Internationale Währungsfonds IWF die Bundesregierung unlängst aufforderte, dafür zu sorgen, dass Deutsche später in Rente gehen, kündigte die russische Regierung am Eröffnungstag der WM an, das Renteneintrittsalter drastisch zu erhöhen. Artjom Prokofjew, Fraktionsmitglied der Kommunistischen Partei KPRF im Staatsrat der Republik Tatarstan, leitete vor ein paar Tagen seine flammende Rede gegen die Rentenreform mit einer - noch fiktiven - Anekdote ein: «Ein Opa ohne Rente wird von seinem Enkel gefragt:

»Was hast du gegen das Gesetz unternommen?«

»Ich war auf der Straße und habe geschrien.«

»Was denn?«

»Tor!«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.