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Die nervige Leihräder-Flut
Teil 4 der nd-Fahrradserie »Sattelfest«: Über 16 000 Mietbikes gibt es stadtweit - die Anbieter Ofo und Obike haben schon aufgegeben
Zwei Jungs stehen an einem orange-silberfarbenen Fahrrad. Einer der etwa Zehnjährigen stützt sich auf den Lenker. Das Rad steht in der Donaustraße in Neukölln, es ist abgeschlossen. Die Jungs sehen nicht aus, als wollten sie gleich damit losfahren. Ob sie vielleicht trotzdem wissen, wie sie es freischalten könnten?
In den vergangenen Wochen waren immer mehr Jugendliche zu sehen, die mit Leihrädern durch den Bezirk fahren - die sie angeblich geknackt haben. Die beiden Zehnjährigen behaupten zumindest zu wissen, wie das geht: ganz ohne Werkzeug, nur, indem man die App austrickst.
Jimmy Cliff, Deutschland-Chef der Firma Mobike, zu der das orange-silberfarbene Fahrrad gehört, sagt dem »nd« zu dem Thema nur so viel: Die App sei sicher, es habe noch »keinen erfolgreichen Hackerangriff« gegeben. »Jegliche Manipulation unserer Räder ist eine Straftat, die polizeilich verfolgt wird.«
Mehr als 16 000 Leihfahrräder gibt es mittlerweile in Berlin. Das Angebot der Firma nextbike fördert der Senat mit jährlich 1,5 Millionen Euro. Neuerdings können BVG-Kunden, die ein Abo für eine Monatsfahrkarte für das öffentliche Verkehrsnetz abgeschlossen haben, kostenlos nextbike-Räder ausleihen. Daneben gibt es sieben weitere Anbieter in Berlin: Die Bahn bietet Fahrräder in Kooperation mit Lidl an, Donkey Republic hat sogenannten virtuelle Stationen für Leihräder eingerichtet, Lime bietet E-Bikes an, vierter im Bunde ist Byke.
Die chinesische Firma Ofo mit knallgelben Modellen hat im Juli erklärt, sich aus Berlin zurückziehen zu wollen, noch sind die Räder aber auf den Straßen zu sehen. Auf Anfragen des »nd« antwortet das Unternehmen nicht. Auch Obike soll mittlerweile insolvent sein und will in Berlin keine weiteren Räder vermieten. Größter Anbieter ist nach eigenen Angaben derzeit Mobike. Wie viele Räder die Firma in Berlin aufgestellt hat, will Cliff aus Wettbewerbsgründen nicht verraten. Auch Uber soll sich für den Berliner Markt interessieren.
Für viele Menschen in der Hauptstadt sind die plötzlichen Massen an Fahrrädern ein Ärgernis, vor allem, wenn sie mitten auf dem Bürgersteig stehen. »Das maßvolle Abstellen von Leihrädern im öffentlichen Raum gilt bisher als sogenannter Gemeinbrauch«, sagte eine Sprecherin der Verkehrsverwaltung dem »nd«. Die Senatsverwaltung habe einen Kriterienkatalog erstellt, dessen Einhaltung fünf von sieben Anbieter zugesichert hätten. Darin ist beispielsweise festgehalten, dass maximal vier Fahrräder ohne Genehmigung an einer Stelle stehen und dass Eingänge von U- und S-Bahnen oder Bushaltestellen nicht versperrt werden dürfen.
Ob die Anbieter die Richtlinien einhalten, müssen die Ordnungsämter der Bezirke kontrollieren. Das kann aber »allein aufgrund der Masse an Rädern« gar nicht funktionieren, sagt der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) dem »nd«. »Faktisch überfluten uns die Billiganbieter und interessieren sich nicht für die Richtlinien.« Noch halte sich das Beschwerdeaufkommen in Grenzen. Doch mit der absehbar steigenden Zahl an Leihrädern würden unweigerlich auch die Beschwerden zunehmen.
Das Ordnungsamt versuche bei Verstößen, die Anbieter telefonisch oder per E-Mail zu erreichen. »Leider gibt es in der Regel keine Rückmeldung«, erklärte der Bezirksbürgermeister. Grundsätzlich hält Hikel das Leihradsystem für eine »sinnvolle Ergänzung der öffentlichen Infrastruktur«. Aber: »Fahrräder sollten weder zur Barriere noch zu Müll im öffentlichen Raum werden.« Deshalb plädiert Hikel dafür, dass das Aufstellen von Leihrädern genehmigungspflichtig wird und dass die Unternehmen eine »flottenabhängige Gebühr« entrichten müssen. »Damit werden Phantomanbieter wie Obike oder Ofo abgeschreckt, sich hier unseriös niederzulassen.« Hikel hat auch eine Idee, wie die Einnahmen genutzt werden könnten: für Investitionen in die Fahrradinfrastruktur.
Auch andere Berliner Bezirke sind genervt von der Flut an Leihrädern. Nachdem auch der Bezirksbürgermeister von Mitte Stephan von Dassel (Grüne) unlängst eine Sondernutzungsgebühr forderte, brachte schließlich der Lichtenberger Bezirksbürgermeister Michael Grunst (LINKE) einen entsprechenden Antrag in den Rat der Bürgermeister ein. Die Prüfung der rechtlichen Fragen in diesem Zusammenhang dauert noch an, heißt es.
In der Kritik stehen die Leihradanbieter teils auch wegen mangelnden Datenschutzes. Wer beispielsweise ein Mobike nutzen möchte, muss der App erlauben, den eigenen Standort abzurufen. Bei den Bahn-Rädern können Kunden stattdessen auch selbst die Adresse eingeben, von der aus sie ein Fahrrad entleihen möchten. »Wir erheben und speichern personenbezogene Daten wie Namen, Telefonnummern und Bankverbindungen«, sagt Mobike-Chef Cliff. Dass das Unternehmen auch »genaue Positionsdaten über Ihre Fahrt« erhebt, wie es in den Datenschutzrichtlinie in der App heißt, und »die genaue Position Ihres Gerätes auch erheben [kann], wenn die App im Vorder- oder Hintergrund läuft«, sagt Cliff nicht. Er verspricht aber: »Wir verkaufen oder teilen keine Personendaten mit Dritten.«
Der Versuch, den Trick der Neuköllner Jungs nachzuvollziehen, weckt Zweifel, ob sie ihn selbst anwenden könnten. Um ein Rad freizuschalten, muss man eine Bankverbindung oder Kreditkarte angeben. Beides haben Zehnjährige nicht.
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