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Wieder »das Maul aufreißen«
Matthias Lilienthal, Chef der Münchner Kammerspiele, reizt die örtliche CSU.
Es gibt zivilen Ungehorsam, aber ebenso einen Gehorsam, der in hohem Maße unzivil wirkt. Weil er nicht aufs Recht setzt, sondern im falschen Moment - pocht. Wie etwa die Münchner CSU. Zur Demonstration »ausgehetzt« am vergangenen Sonntag hatte auch Matthias Lilienthal aufgerufen, als Intendant der Kammerspiele. Die örtliche Seehofer-Partei reagierte frequenzpeinigend wie ein Feuermelder: Das »Privileg staatlicher Subvention« verpflichte zu »parteipolitischer Neutralität«. Man griff zu schöner Sprache: Es könnten »dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen« drohen. Ob es dazu kommt, ist egal. Der Präzedenzfall ist da! Der Präzedenzrückfall: demokratietötende Reflexe im Dauerdienst.
Lilienthal gibt mit jeansschlabbernder Souveränität den Plebejer und donnert mit federnder Intelligenz aufs Klischeebild derer, die ihn unterschätzen. Die Stadttheater hat er als »vernagelte Kisten« bezeichnet, ihn treibt Sehnsucht nach Realität und Grenzverwischung. Theater soll wieder »das Maul aufreißen«, sich aus der Welt in die jeweilige Lokalität schrauben und umgekehrt. Confessio eines Ex-Hausbesetzers aus Berlin-Neukölln. Passioniert für ein Denken und Fühlen aus der Tiefe, vom Rand her.
Das institutionelle Askesegebot in puncto Parteien ist richtig. Aber es gibt Zeiten zunehmenden Herzeleids, da geht Haltung vor Zurückhaltung, da hat juristische Vorgabe nur die blasse Kraft einer Formalie. »Die Institutionalisierung dessen, was man früher gegen die Institutionen reklamierte, kann zum Fluch werden, wenn sie sämtliche Energien aufsaugt«, hat Mark Siemons kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geschrieben. Von Prinzipien »begrenzter Regelverletzung« sprach einst Rudi Dutschke. Werk und Mundwerk von Künstlern: ja, zwei Welten - die erste bleibt die wichtigere. Aber sollte nicht jener Geist geheiligt sein, der alle institutionelle Autorität, ja: aufs Spiel setzt, das kein Spiel ist? In Bayerns Behörden hängt das Kreuz. Gebotszeichen nach draußen - nicht auch nach innen? Staates Häuser als Fest gegen das Festungsdenken. Der Charakter von Institutionen (also der Menschen in ihnen) liegt auch in wachen Selbstdistanzierungskräften.
So liegt es just im Wesen der Institution Theater, sich in Konflikte, die sie abendlich durchspielt, auch real zu verwickeln. Theater ist die Körperschaft, die durchlässige Körper schafft. Auf und jenseits der Bühne. »Es ist der schöne Schein, der uns entrückt, und doch lenkt uns der hohe Geist sehr rasch hinab zum nahen Faltenwurf der Welt.« Lessing. »Ich will nicht in einer orbánschen Republik aufwachen.« Lilienthal. Es waren im Herbst 1989 Theaterkünstler, die zur Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz aufriefen. Aus dem Staatsschauspiel Dresden rief es damals legendär: »Wir treten heraus aus unseren Rollen.« Der Zorn gegen »Stuttgart 21« hatten den kräftigen Zuspruch der Staatsbühnen. Wenn Theaterleute - als Betrieb - für gesellschaftlich geschützte Freundlichkeit auf die Straße bitten, so ist das auch Ausdruck der Verzweiflung, die das Repräsentationstheater befiel: Was tun? Im geschützten Raum zum 252. Mal den »Nathan« spielen? Oder lieber den Produktionsetat spenden und über die leere Bühne ein Transparent hängen? Mit zwei Worten nur: Denkt selber!
Lilienthal, Jahrgang 1959, inspirierte erste Regieschritte Christoph Marthalers in Basel, und acht starke, wüste Jahre war er Frank Castorfs Chefdramaturg an der Berliner Volksbühne. Christoph Schlingensiefs Aktionskunst pries und förderte er, als der Aktionskünstler noch von allen Seiten belächelt und zerhämt wurde. Was Lilienthals Theatersinn erklärt, seine Theatersinne aufstachelt: sozio-kultureller Mix, Asozialität von Jugend, Anarbeiten gegen den Status quo des psychologisch-realistischen Spiels, also auch: Auflösung der Barrieren zwischen den Sparten. Für Münchens Maximilianstraße, wo die Kammerspiele siedeln, die er seit 2015 leitet, eine Schocktherapie: Zeltlagergeist, Gossensolidarität, rau, roh, repräsentationsfern. Der Intendant ist ein Vorstadttrommler gegen täuschenden Prunk.
Er hat das Berliner Theater HAU zu europäischer Strahlkraft geführt, er war Programmchef des Festivals »Theater der Welt«, und er lehrte Kunststudenten in Beirut. Ein Ort des Staubs, der Hitze, der Schattenlinien, des heimatlosen Friedens - wo vieles fehlt, ist alles möglich. Lilienthals politisch-poetische Ökonomie. In jüngster Vergangenheit war von ihm auch die Rede, wenn selbige auf Chris Dercon kam, den unglücklich gesteuerten Volksbühnen-Flopper. Der Mann der knittrigen T-Shirts und der feinrippige Belgier: zwei, einander gut bekannt und gewogen. Denn auch Lilienthal, verstörungsfröhlich, sieht sich durchaus auch als Kurator, als Verkuppler der nomadischen Eigenarten, als Organisator des Crossover.
Normalerweise wird von denen, die man landläufig die Schäbigen nennt, nachgetreten. Von der CSU aber wird jetzt gewissermaßen - vorgetreten: Lilienthal wird nach 2020 keinen neuen Münchner Vertrag erhalten. Für die lokalen Schwarzen, die ihm eine Verlängerung verweigerten und die jetzt Rot sehen, steht er gewissermaßen schon draußen. Also: Spießruten her! Die Christkreuze in den Amtstuben schütteln fassungslos ihre Köpfe.
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