Reise in den Osten

Dieter M. Gräfs Gedichte

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Gefördert vom Deutschen Literaturfonds e. V. und dem Land Berlin, reist der aus Ludwigshafen gebürtige Dichter Dieter M. Gräf nach Osten. Das ist nicht unbedingt geografisch zu verstehen, denn da der Osten rot war, ja, alles Rote wie die Morgensonne aus dem Osten zu kommen scheint, befindet der Dichter sich auch dann im Osten, wenn er über die frühkommunistischen Wiedertäufer aus Münster schreibt. Deren Anführer Jan Matthys ist ihm deshalb ein »Ayatollah« - man könnte auch sagen: Stalinist, SS-Mann, Terrorist. Gräf unterläuft hier keine Verwechslung, in seiner Nacht sind alle Schrecken fahlrot, bis hin zu dem von Erich Honecker unwaidmännisch erlegten Rotwild. »Falsches Rot« nennt Gräf sein Buch. »O falsches Rot«, heißt es bei Eichendorff, »Verblühen / Musst dieses Blütenmeer, / Wer dachte, dass dies Glühen / Das Abendrot schon wär!«

Es ist also eine Fahrt in die falsche Versprechung, ins einst Rote, nach Kaliningrad, mit Zwischenstopp in Auschwitz weiter in die DDR, nach Stammheim, die »Hauptstadt der RAF«, und am Ende zurück nach Ludwigshafen, wo er seiner Eltern und einer Geliebten gedenkt. Unterwegs treten auf: Johannes R. Becher, Brigitte Reimann, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Gisela Elsner, Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Rolf-Dieter Brinkmann. Es ist, zusammengefasst, in seinen ersten beiden Teilen oder »Räumen« ein Gewaltritt durch Bluttaten, Gemeinheiten und Krankheiten aller Art, im letzten Raum, im schwach-sozialdemokratischen Ludwigshafen après Bloch, sind wir in die Melancholie des Westens zurückgekehrt, die nach so vielen Monstrositäten kommod wirkt.

Aber gesetzt, die Monster kommen aus dem roten Osten, wer hat sie geboren? Das beantwortet Gräf mit einem Zitat des aus Dresden stammenden Begründers des »Kapitalistischen Realismus«, Gerhard Richter, der vor »Ideen« warnt, die »fast immer nicht nur gänzlich falsch und unsinnig sind, sondern vor allem gefährlich«. Die Warnung hat Georges Brassens mit mehr Witz formuliert, als er sang: »Für Ideen sterben, einverstanden, aber eines langsamen Todes!« In Wahrheit ist noch selten einer an einer Idee gestorben, aber stündlich sterben Menschen an der Ideenlosigkeit der Apparate und Verhältnisse.

Handwerklich ist der Band hervorragend gemacht, wenn auch gelegentlich schlüpfrig (»für sie gab es Schornstein«, heißt es über die Juden). Das Ganze kommt mal in Terzetten, mal in aufgesprengten Versen daher, mal dokumentarisch, mal in kecken Müllerismen: »im Freund / stank der Feind«. Gekonnt auch die mit einem Smartphone aufgenommenen Schnappschüsse, die zwischen die Gedichte gesetzt sind; kalkulierter als die, mit denen Brinkmann seine Bücher zierte, aber von ebensolcher Tristesse. Sie sollen die Überbleibsel des ideologischen Zeitalters vorführen und sind in dieser Funktion selbst wieder ideologisch.

Dieter M. Gräf: Falsches Rot. Brueterich Press. 209 S., 20 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -