- Politik
- Essay
Professor Huder erzählt eine Geschichte
Über ein altes Auto der Firma Mannesmann, Kaisers »Soldaten Tanaka« in Parchim und die ominöse »Spalterflagge« mit dem Ulbrichtschen Emblem
Also, beginnt Huder, die Parchimer waren eines Tages mit einem Möbelwagen nach Berlin-West gekommen, blau-gelb angestrichen mit großen Buchstaben den Namen ihres Theaters draufgeschrieben, und fuhren vor der Dahlemer Villa vor, in der sich damals noch das Archiv der Akademie der Künste befand. Und als die Türen dieses altertümlichen Autos, von Mannesmann erbaut, geöffnet wurden, entstiegen dem an die dreißig Männlein und Weiblein, die mitgekommen waren, um bei der Gelegenheit in Westberlin Verwandte zu besuchen. Sie waren alle ziemlich erfroren, und wir machten für sie Kaffee und heiße Würstchen. Aber gekommen waren die Parchimer, um die Georg-Kaiser-Ausstellung abzuholen; sie sollte dort gezeigt werden, weil sie an ihrem Theater das antimilitaristische Stück »Der Soldat Tanaka« zur Premiere vorbereiteten.
Nun, die Wände mit den Bildern und Texten waren schließlich alle verladen, das Auto setzte sich in Bewegung und kam bis nach Halensee, wo das altertümliche Gefährt plötzlich streikte. Keine der erreichbaren Reparaturwerkstätten aber war in der Lage, diesen Dinosaurier des Düsseldorfer Konzerns zu reparieren. Es musste also mit Parchim telefoniert werden, damit sie den Wagen abholen kamen. Aber als Akademieangestellter hatte ich mich doch verpflichtet, keine Telefonate »nach drüben« zu führen, und wenn, dann musste Buch darüber geführt werden, das war alles sehr umständlich.
(Hier gab es in der Erzählung Huders einen Sprung, denn plötzlich befanden sich alle am Alex, genauer: in der Keibelstraße im Polizeihaus, wo der Vorgang mit dem kaputten Auto aus Parchim gemeldet worden war.)
Also, fährt Huder fort, die Parchimer holten schließlich ihr liegen gebliebenes Auto aus Berlin-West nach der sowjetisch besetzten Zone ab, die schon die DDR war. Ich fuhr dann von Schönefeld aus nach der vorpommerschen Kleinstadt ab, denn ein Auto stand mir damals noch nicht zur Verfügung. Plötzlich kam auf dem Bahnhof ein Mann auf mich zu, begrüßte mich überschwänglich, und als er mein verdutztes Gesicht bemerkte, fragte er: Aber Doktor, kennen Sie mich nicht? Ich kannte ihn tatsächlich nicht, jedenfalls erkannte ich ihn in dieser Umgebung nicht, und da stellte er sich mir als Arnolt Bronnen vor.
Ein merkwürdiger Mensch, dieser Bronnen, sagt Huder: Zuerst war er Expressionist, dann wurde er Kommunist und Brecht-Freund, später landete er bei den Nazis, und dann ging er in die DDR und half beim Aufbau des Sozialismus. Liegt auch schon lange auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ...
Ja, erzählt Huder weiter, und dann fuhr ich an diesem Tage nach dieser unverhofften Begegnung mit Bronnen in einem eiskalten Personenzug nach Parchim, sehr langsam, und kam dort gegen Mitternacht an. Ich sah mich schon mutterseelenallein auf dem Bahnhof, fremd, nicht wissend, wie ich zum Theater kommen würde, aber als ich ausstieg, standen zu meiner großen Verwunderung eine Menge Leute herum. Das waren die Schauspieler des Tanaka- Ensembles, die mich abholen kamen.
Wir gingen dann zum Theater, wo gehörig getrunken und gegessen wurde, und es muss so gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als sie mich ins Hotel »Zum Hirschen« brachten. Dort klingelte ich und wurde von einem uralten Nachtpförtner auf mein Zimmer verwiesen. Es war eiskalt darin, denn man hatte die Fenster stundenlang offen stehen gelassen ...
Warum denn das?
Nun, weil im Hotel ein Dr. Huder aus Berlin gemeldet worden war, und wie du weißt, sind Ärzte immer für viel frische Luft im Zimmer ... Ich habe dann alle Sachen angelassen und alles, was ich zum Zudecken fand, um mich gewickelt, aber ich habe dennoch wahnsinnig gefroren, und schlafen konnte ich auch nicht, weil die Theaterleute in der darunter liegenden Gaststätte bis in den Morgen hinein gefeiert haben.
Als ich am nächsten Tag dem Intendanten von meiner schlaflosen Nacht berichtete, meinte der nur lakonisch: Damit müsse ich mich abfinden, seine Komödianten seien eben durch meinen Besuch so enthusiasmiert gewesen ... Die Ausstellung wurde aufgebaut, und ich war gespannt, ob auch der Sekretär für literarische Fragen der Akademie-Ost, mein lieber Freund Herbert Ihering, pünktlich zu deren Eröffnung eintreffen würde. Dazu hatte ich ihn in meiner Eigenschaft als Sekretär für literarische Fragen der Akademie-West freundschaftlich verpflichtet. Ich hatte ihm gesagt: Du hast ein Dienstauto, also komme, und lasse es dir nicht einfallen, zu kneifen, denn wir wollen uns - West und Ost - im Namen von Georg Kaiser in Parchim die Hände reichen. Kommst du nicht, sind wir geschiedene Leute ...
Am Sonntag wurde dann die Ausstellung eröffnet. Der Intendant, ein alter Theaterhase, hatte die Honoratioren der Stadt erpresst: falls sie nicht zur Ausstellungseröffnung erschienen, bekämen sie auch keine Karte für die Tanaka-Premiere. Aber das Problem waren nicht die Leute - die waren gekommen -, das Problem war die »Spalterfahne«; du weißt welche, also die mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, das Ulbrichtsche Emblem. Die Fahne war so angebracht, dass jeder Redner, der hinter dem Pult stand, mit der Fahne auf dem Foto zu sehen gewesen war - Fotografen waren natürlich erschienen. Stell dir vor, was das bedeutet hätte: Dr. Huder aus Westberlin, Angestellter des Senats, zusammen mit der »Spalterflagge« auf dem Bild! Was sollte ich tun?
Ich verfiel auf eine List. Ich stellte mich so, dass ich die Fahne vollständig abdeckte. Beinahe wäre doch alles umsonst gewesen, denn als die Tür aufging und der verspätete Ihering endlich eintraf, geriet die »Spalterfahne« durch einen Windstoß in Bewegung, aber - Gott sei Dank - wurde diese Szene von den Fotografen gerade nicht erfasst!
Weißt du, fragt Huder, warum es so wichtig war, dass Ihering nach Parchim kam? - Kann ich mir denken, erwidere ich, der hatte doch damals in »Sinn und Form«, also der östlichen Akademie-Zeitschrift, in der du doch auch Beiträge über Barlach, Tucholsky, Kaiser und andere veröffentlicht hast, einen festen Platz mit »Bemerkungen zu Bühne und Film«. - Genauso war es, sagt Huder, und darin sollte er über verschiedene Tanaka-Aufführungen in west- und ostdeutschen Städten, also auch über die in Parchim berichten, du verstehst ...
Natürlich verstand ich. Ich erinnerte mich, wie Huder bereits 1954 zu uns nach Senftenberg gekommen war, wo wir am Theater das Volksstück 1923 »Nebeneinander« von Georg Kaiser herausgebracht hatten. Angesichts der Wiedereinführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik, dem Erstarken von Militarismus und Revanchismus und dem Sichausbreiten alter nazistischer Vereinigungen kam diesem Stück eine große aktuelle Bedeutung im gesamtdeutschen Rahmen zu. Am Abend der sehr erfolgreichen Premiere hatte uns Huder aufgefordert, der in der Schweiz lebenden Witwe Kaisers ein Telegramm zu schicken. Später, als wir am Maxim Gorki Theater in Berlin die Anti-Kriegs-Dichtung »Die Spieldose« von Kaiser in den Spielplan nahmen, wurde der in Senftenberg zwischen mir und Huder geschlossene Bund gefestigt. Wir bauten gemeinsam die Georg-Kaiser-Ausstellung im Foyer des Maxim Gorki Theaters auf, wobei ich mich an einer der Scheiben schnitt; »Blutsbrüderschaft«, sagte Huder, verbinde uns seitdem. Beide Kaiser-Inszenierungen, die in Senftenberg und die in Berlin, hatten Horst Schönemann zum Regisseur; es waren zwei seiner besten Regie-Arbeiten in seinem langen Arbeitsleben.
Aber wie lange wird mir Walter Huder noch Geschichten erzählen können? Nächste Woche wird er sich von seiner Frau Irmtraud auf den Friedhof in Zehlendorf fahren lassen, um dort bei der Beisetzung der Piscator-Witwe einen Kranz zur Erinnerung auch an den großen Theaterrevolutionär niederzulegen, über den er eine seiner besten und wichtigsten Ausstellungen gemacht hat, die u. a. in Berlin, München, Essen, in Amsterdam, Rom, Florenz, Neapel, London, Dublin, Glasgow und in reproduzierter Form auch in New York gezeigt wurde.
Huder hat 1944 am Slowakischen Nationalaufstand teilgenommen. Sein Antifaschismus und sein Bekenntnis zu den Werten des bürgerlichen Humanismus wie des revolutionären Sozialismus ist unauslöschlich mit seinem Leben verbunden; selbst, wenn er etwas davon vergessen möchte, er könnte es nicht: Die Narben an seinem Körper, der Schmerz, der ihn peinigt, sind eine ständige Erinnerung an das, wofür er in seinem Leben stritt - bis heute. Kein Zufall, dass ihn seine Schüler Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar als den Begründer der deutschen Exilforschung bezeichnen.
Kurz vor Huders 80. Geburtstag erhielt ich von Frau Irmtraud das Foto, auf dem die beiden literarischen Sekretäre der Akademie-West und der Akademie Ost, Walter Huder und Herbert Ihering, zu sehen sind. Die Ausstellungseröffnung in Parchim fand, wie auf der Rückseite zu lesen ist, am 10. Januar 1960 statt. Sie sind beide darauf gut zu erkennen, und von der ominösen »Spalterfahne« ist nichts zu sehen.
Ausstellung im Haus der Weiterbildung, Blaues Foyer, Goethestraße 9-11 in Berlin-Lichterfelde. Geöffnet bis 13. Februar, Mo-Fr 9-21 Uhr, Sa/So nach Vereinbarung, Tel. 030-63212050.
Zur Eröffnung wird die Huder gewidmete Festschrift »Die Asyle der Kunst« überreicht, ersch. bei Borstelmann & Siebenhaar (mit Beiträgen u.a. von Günter Grass, Walter Jens, Rolf Hochhuth, Werner Mittenzwei).
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.