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Eine gutartige Lawine angestoßen
Fahrradserie, Teil 7: Gespräch mit dem Radaktivisten Heinrich Strößenreuther
Als Alltagsradfahrer, langjähriger Rad-Lobbyist und Mitinitiator des Volksentscheids Fahrrad können Sie die Entwicklung des Radverkehrs in Berlin sehr gut bewerten. Ist Berlin inzwischen auf dem Weg zur Fahrradmetropole?
Von der Menge der Radfahrer auf jeden Fall. Ich glaube, wir sind in Europa die Stadt, wo die meisten Radfahrer unterwegs sind, absolut gezählt, nicht relativ. Und wir sind in Deutschland mittlerweile die Stadt, die die meisten Radverkehrsplaner eingestellt hat. Mit soviel Kilowatt unterm Sattel werden wir sie bald auf der Straße spüren, die neuen Radwege.
Davon ist leider noch sehr wenig zu merken.
Ja.
Die Verkehrswende und die Stärkung des Radverkehrs sind zwar verkündet worden, aber eigentlich steht man da am Anfang. Wie bewerten Sie denn in dem Zusammenhang die Performance des rot-rot-grünen Senats auf diesem Gebiet, die sich die Förderung des Radverkehrs auf die Fahne geschrieben hatte?
Die ist tatsächlich nicht ausreichend. Man hätte in der kurzen Zeit wesentlich mehr machen können, sich auf ein paar Dinge konzentrieren, so dass was zu sehen ist. Ein bisschen Farbe, ein paar Poller, kein kompliziertes Unterfangen, fertig ist ein geschützter Radweg. Wenn wir heute wieder irgendwo einen Terroranschlag hätten, dann würden morgen die ersten Videokameras stehen. Man kann, wenn man will.
Sie meinen damit, dass auch die Verkehrsverwaltung unter der Senatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) hätte mehr machen können? Auch wenn man natürlich erst mal einen Startbonus hat.
Ja, genau. Wir wären gerne als Aktivisten ruhiggestellt worden, wir hätten gerne was auf der Straße gesehen.
Aber als Mitinitiator des Volksentscheid Fahrrad haben Sie es doch geschafft, dass noch vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet wurde, in dem der Radverkehr eine große Rolle spielt. Auf diesen Erfolg können Sie stolz sein.
Da sind wir tatsächlich auch alle miteinander stolz drauf. Allerdings ist das Gesetz ein Jahr zu spät gekommen, das hätte ja ohne Wenn und Aber auch letztes Jahr im Sommer schon beschlossen werden können. Was die Prozessgeschwindigkeit, die Verhandlungsgeschwindigkeit angeht, da hatte die Verkehrssenatorin die Dinge leider nicht so top im Griff.
Es gibt auch die Kritik an Ihnen, dass Sie da manchmal übers Ziel hinausgeschossen sind. Wie zum Beispiel bei der Vorlage der ersten Version des Radgesetzes. Da ging es ja um Busspuren und Straßenbahngleise, die nicht richtig bedacht waren. Sind Sie da manchmal zu forsch?
Beim Thema Busspuren und Radspuren haben wir aktiv diverse Gespräche zum Beispiel mit der BVG geführt, da gab es keine offenen Wünsche. Unsere Türen und 2.0-Tools standen jedermann offen, der Entwurf des Radgesetz war zur Kommentierung lange online. Den Schuh ziehen wir uns nicht an. Wir haben 2016 ein komplettes Radgesetz vorgelegt, der alte Senat hatte im Sommer 2016 ein Rechtsgutachten beauftragt. Als Amateure, als Privatmenschen in der Freizeit haben wir innerhalb von drei Monaten ein vollständiges Radgesetz vorgelegt - dass muss eine bezahlte Verwaltung erst recht hinbekommen können.
Was sind denn aus Ihrer Sicht die Kernerfolge des Mobilitätsgesetzes, mit Blick auf den Radverkehr?
Das Allerallerwichtigste ist, dass das Mobilitätsgesetz Senat und Bezirke verpflichtet, 3200 Kilometer geschützte Radwege an allen Hauptstraßen zu bauen. Es geht darum, dass man tatsächlich sicher und sorglos in der Metropole mit dem Fahrrad fahren kann.
Sicher und sorglos, damit meinen Sie auch die Festlegung auf die Vision Zero, also das Vorhaben, Verkehrswege so sicher zu gestalten, dass es keine Verkehrstoten und Schwerverletzten mehr gibt?
Genau. Das Zweitwichtigste sind die 100 Kilometer Radschnellwege und über 350 Kilometer Fahrradstraßen. In Summe sollen bis 2030 fast 4000 Kilometer Radinfrastruktur neu errichtet werden.
Wir sind gespannt, ob das klappt.
Wir auch, aber aus Klimaschutzgründen brauchen wir diese Infrastruktur für die Verkehrswende.
Berlin ist das erste Bundesland mit einem Mobilitätsgesetz. Sie dürften sicherlich viele Anfragen aus anderen Bundesländern von Bürgern und Aktivisten bekommen, wie Sie das hinbekommen haben und wie man das nachmachen kann, oder?
Es gibt mittlerweile 15 Großstädte, in denen Bürger die Nase voll haben. In der Sammelphase für Unterschriften befinden sich derzeit Stuttgart oder die Landesinitiative in Nordrhein-Westfalen. Weitere Vorbereitungen, sozusagen Inkubationsphasen, laufen derzeit in Städten wie Aachen, Kassel, Rostock, Bielefeld, Tübingen oder Wiesbaden - also quer durch die Republik, ganz häufig auch dort, wo die Grünen den Bürgermeister stellen.
Das heißt, Sie haben mit Berlin die Verkehrswende angehebelt?
Der Volksentscheid Fahrrad hat eine gutartige Lawine angestoßen, von unten.
Was sind die Aspekte, die andernorts in der Republik auf besonders großes Interesse stoßen? Sind das auch die Fahrradbestandteile des Mobilitätsgesetzes?
Ja, es geht ebenfalls um geschützte Radwege und Fahrradstraßen, die zu bauen sind. Außerdem wird nachgefragt, wie Kreuzungen sicher umgebaut werden können. Das spielte übrigens auch in Berlin eine große Rolle: 30 Kreuzungen sollen pro Jahr sicher umgebaut werden. Sichere und geschützte Radwege, das ist der Standard, den wir in der politischen Landschaft etabliert haben: Vor dem Volksentscheid Fahrrad ging es lediglich um Straßenpinseleien. Wir haben es geschafft, dass jetzt ein Radweg sein muss, auf dem man nicht mehr parken darf und als Autofahrer oder Lkw-Fahrer nicht mehr fahren kann.
Viele Radfahrer in Berlin haben die Erfahrung gemacht, warum das bitter nötig ist. Lassen Sie uns dennoch noch einmal über den Berliner Tellerrand hinausschauen. Was sind Ihre nächsten politischen Ziele? Sie haben ja Berlin umgewälzt, deutschlandweit gibt es Resonanz, wollen Sie als Rad-Lobbyist auch international durchstarten?
Nein. Städte wie Amsterdam und Kopenhagen, die können eher nichts von Berlin auf diesem Gebiet lernen, weil sie beim Radverkehr viel weiter sind.
Was schwebt Ihnen dann vor?
Ich glaube, dass die Berliner Diskussion zum Radverkehr gezeigt hat, dass die heutigen Parteien zu wenig in der Lage sind, für Nachhaltigkeitspolitiken zu werben und Konflikte in einer Geschwindigkeit zu lösen, wie es das Klima, die Städte und viele Landstriche weltweit brauchen. Die Nachhaltigkeitskonflikte sind seit Jahren so groß, dass ich an den Politikern unserer Medien-Demokratie verzweifle. Autofahrern Flächen wegnehmen, um sie Radfahrern zu geben, das mag kaum ein Bürgermeister, kaum eine Partei gerne. Das gleiche gilt für CO2-Steuern, die zu viel CO2-Ausstoß empfindlich bestrafen. Da müssen tatsächlich wir Bürger unser Wort viel lauter erheben.
Das bedeutet?
In Berlin denke ich über die Gründung einer neuen Partei nach, bundesweit über eine CO2-Steuer-Kampagne, die die Politik in Wallung bringt. Hitzerekorde, Dürren, Waldbränden, 30 Grad in Nord-Norwegen - was braucht es eigentlich noch?
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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